Haltung UND Gesicht zeigen

In den "unendlichen Weiten" des World Wide Web ist es sehr leicht, seine Meinung zu äußern, Häme zu verbreiten, Menschen verbal anzugreifen, Hass zu schüren und Gewalt zu säen. Leicht ist es, weil wir nicht gezwungen sind, unsere Identität preis zu geben. Wir können uns hinter Fantasienamen verstecken und auf diese Weise unser Missfallen, unseren Frust und unsere Wut in die digitale Welt schleudern ohne eine Konfrontation in der realen Welt zu riskieren. Von dieser Möglichkeit der anonymen Meinungsäußerung und Stimmungsmache wird heute vielfach Gebrauch gemacht. So ärgerlich es ist, dass sich Miesmacher, Mobber und Aggressoren hinter digitalen Masken verstecken können, so bedenklich finde ich es, dass es offenbar auch immer mehr Menschen schwer fällt Haltung UND Gesicht zu zeigen, die nicht darauf aus sind, anderen Menschen zu schaden, sondern sich einfach nur Sorgen machen - um ihre eigene Zukunft, die Zukunft ihrer Kinder und die Zukunft unserer Gesellschaft. Selbst in unserem Land, in dem die freie Meinungsäußerung ein Grundrecht ist, hört man in letzter Zeit häufiger den Satz "das darf man ja nicht laut sagen". Wenn das so ist oder auch nur von vielen so empfunden wird, dann läuft bei uns gerade etwas richtig schief. Denn wenn eine Vielzahl von Menschen in einem der freiheitlichsten Länder dieser Erde tatsächlich das Gefühl haben sollte, die eigene verfassungsgemäße Meinung nicht offen und ehrlich äußern zu können, dann sollte uns das allen zu denken geben.


Wenn ich behaupte, dass Angst den Zusammenhalt befreundeter Staaten in der Welt und den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft gefährdet, dann halte ich das nicht für übertrieben. Die Vorwahl-Erfolge eines Donald Trump in den USA sprechen eine ebenso deutliche Sprache wie die letzte Wahl in Polen, der Zuspruch zur Front National in Frankreich oder die Wahlprognosen für die AfD bei uns. Ganz offensichtlich folgt der wirtschaftlichen Globalisierung die geistige nicht im gleichen Tempo. Irritationen und schwerwiegende Zweifel treiben den Kurs von Personen und Parteien, die den Menschen einfache Lösungen versprechen, in die Höhe. Menschen, die sich von der zunehmenden Komplexität der Zusammenhänge und Wechselwirkungen überfordert fühlen, sehnen sich nach simplen Antworten und einer ordnenden Hand. Diese Menschen gehen entweder einer politischen Entscheidung aus dem Weg, indem sie die Wahllokale meiden, oder sie wählen eine Alternative, die ihnen vorgaukelt, die geeigneten Mittel gegen komplizierte Situationen zu besitzen.


Die Kunst der Politik wird künftig darin liegen, das Vertrauen der Menschen zurück zu gewinnen, ohne sie über die vertrackten Verhältnisse in der Welt und im eigenen Land zu belügen. Allein werden das die regierenden Politiker jedoch nicht schaffen. Alle, die sich eine freie, weltoffene Gesellschaft wünschen, müssen mehr als bisher bereit sein, Haltung UND Gesicht zu zeigen. Sie müssen die lieb gewordene politische Trägheit überwinden, und sich wieder mehr einmischen und einbringen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es heute nicht mehr ausreicht, sich neben der eigenen Selbstverwirklichung verantwortungsvoll um die Familie und die Freunde zu kümmern. Wir alle müssen wieder lernen, politischer zu denken und zu handeln. Das fällt uns nicht leicht, da wir uns an Spezialistentum und die Professionalisierung gesellschaftlicher Teilaufgaben gewöhnt haben. Es reicht aber nicht mehr aus, über die Politprofis zu schimpfen und ihnen bei der nächsten Wahl einen Denkzettel zu verpassen. Um die Werte unserer Gesellschaft müssen wir uns gemeinschaftlich kümmern - mit Haltung UND Gesicht -, damit nicht anonyme Hetzer und Demagogen die Meinungsführung übernehmen und wir nicht erleben müssen, dass unsere sozialen Werte unter dem dumpfen Marschtritt brauner Stiefel zerbröselt werden.