#lichterkettemoorum

Zweiter Akt


Auf dem Groß-Monitor über der Bühne wird eine weitere Folge des Vido-Blogs „Nerius On Crime“ ausgestrahlt.

 

Live-VLog NOC

 

KIM NERIUS sitzt in einem Kellerraum, der nur schwach beleuchtet ist.

 

KIM. Moin, ihr Netzhocker. Hier ist „NOC – Nerius On Crime“. Ich bin in einem Keller in Moorum. Neben mir sitzt ein junger Mann, der euch etwas sagen will. Er möchte Haltung und Gesicht zeigen, obwohl das sehr gefährlich für ihn ist. Darum frage ich ihn jetzt noch einmal, ob er das wirklich will, ob er sich der Gefahr bewusst ist, in meinem Live-Stream sein Gesicht zu zeigen und seinen Namen zu nennen. Wenn wir das jetzt machen, dann können wir nichts schneiden und nichts weglassen. Du bist für einige hunderttausend Menschen live zu sehen und Dein Bild kann im Internet verbreitet werden. Willst Du das wirklich?

DJAMAL im Off. Ja, das will ich!

KIM. O.K., Du bist mutig. Du heißt Djamal, bis neunzehn Jahre alt, Abiturient am Sophie-Scholl-Gymnasium in Moorum. Ist das richtig?

DJAMAL im Bild. Ja, das ist richtig, Jamila.

KIM. Wir haben uns vor ein paar Tagen kennengelernt. Ich habe von dem Brandanschlag auf das Asylbewerberheim berichtet. Du hast mir gesagt, dass es einen rechtsradikalen Treffpunkt in Moorum gibt, die Gaststube URWURST.

DJAMAL. Richtig. Im URWURST werden Ausländer und Schwule wie Freiwild betrachtet.

KIM. Bist Du Ausländer, Djamal?

DJAMAL. Nein, ich bin Deutscher, ich bin in Moorum geboren. Aber meine Eltern kommen aus Tunesien.

KIM. Bist Du schwul, Djamal?

DJAMAL. Nein, aber ich habe einen schwulen Freund. Er ist etwas älter, einundzwanzig, und studiert an der Uni in Sieventhal. Seine Mutter stammt auch aus Tunesien. Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen, unsere Eltern sind befreundet, er ist wie ein Bruder.

KIM. Eure Wurzeln verbinden euch also.

DJAMAL. Nicht nur unsere Wurzeln. Unsere Liebe für Freiheit und Gerechtigkeit. Und unsere Wut.

KIM. Eure Wut?

DJAMAL. Schau Dich um, Jamila. Was siehst Du? Wir hören jeden Tag, dass wir im besten Land der Welt leben. Aber was geht hier ab? Mein Freund sagt keinem, dass er schwul ist, nicht mal seinem Vater, obwohl der eigentlich ok ist.

KIM. Was ist mit seiner Mutter?

DJAMAL. Die ist vor drei Jahren gestorben.

KIM. Warum konnte er es Dir sagen?

DJAMAL. Ich hab´s ihm gesagt. Ich hab´s gemerkt und ihm gesagt, dass es kein Problem für mich ist.

KIM. Aber für andere ist es ein Problem?

DJAMAL. Für viele ist es ein Problem, wenn Du nicht Deutsch aussiehst oder wenn Du schwul bis. Dein Herz und Dein Charakter spielen keine Rolle. Mein Freund wird häufig angemacht und provoziert. 

KIM. Von Jugendlichen aus dem URWURST?

DJAMAL. Die haben ihm schon mehrmals Schläge angedroht. Und die zieh´n das durch. Es gibt viele, die Angst vor den URWURST-Schlägern haben.

KIM. Du hast keine Angst?

DJAMAL zeigt ihr seinen ausgeprägten Bizeps. Ich bin stärker. Ich mache auch Karate.

KIM. Aber Du bist doch erst neunzehn, und er schon Student.

DJAMAL grinst. Ich bin trotzdem stärker. Er ist sehr zierlich. Ich versuche, auf ihn aufzupassen. Aber ich kann nicht immer da sein. Und Du siehst ja, wozu die Nazis fähig sind.

KIM. Du denkst, die Jugendlichen aus dem URWURST haben das Flüchtlingsheim abgefackelt?

DJAMAL. Ganz sicher. Das ist nicht ihr erster Brandanschlag.

KIM. Das ist eine krasse Anschuldigung. Bei dem Brandanschlag wurde ein Kleinkind getötet.

DJAMAL. Den Nazis macht das nichts aus. Für die sind Ausländer nur Untermenschen, die tot besser sind als lebendig.

KIM. Hast Du Beweise?

DJAMAL. Ich habe sie bei der Turnhalle unserer Schule geseh´n, die sie auch abfackeln wollten, weil dort Flüchtlingskinder Sport machen dürfen.

KIM. Aber am Flüchtlingsheim hast Du sie nicht gesehen?!

DJAMAL sarkastisch. Ich schlafe nachts – wie jeder „gute Deutsche“.

KIM. Das klingt irgendwie verbittert. Schämst Du Dich dafür, Deutscher zu sein?

DJAMAL. Nein. Aber ich schäme mich für Moorum, meine Heimatstadt. Es gibt hier viele Leute, die zwar selbst nichts machen, aber heimlich Beifall klatschen, wenn es gegen Ausländer und Schwule geht.

KIM. Gibt es in Moorum viele verkappte Neo-Nazis und Rassisten?

DJAMAL denkt kurz nach. Das denke ich. Ja!

KIM. Lassen wir das mal so steh´n. Ich danke Dir, Djamal! Und ich wünsche Dir verdammt viel Kraft und Glück. Auch Deinem schwulen Freund. (allein im Bild) Sobald ich Neues habe, melde ich mich wieder. Ihr seid bei „Nerius On Crime“. Bleibt wachsam. Ciao!

 

Ende Live-VLog. Das Bühnenbild wird sichtbar.

 

Wohnbereich im Einfamilienhaus der Familie Jessen. Wohn- und Esszimmer in einem verbundenen Raum (zusammen gut 40 qm). Eine Flurtür, ein offener Durchgang zur Küche. Eine Schiebetür zur Terrasse, die einen Spalt offen steht. Exklusive Schlichtheit mit antikem Mobiliar kombiniert. ALEXANDER „ALEX“ JESSEN ist in seinem Ohrensessel eingenickt. Vorsichtig wird die Terrassentür weiter aufgeschoben. BETTINA WAGENKNECHT schaut durch den Spalt in das Zimmer.

 

BETTINA. Alex? Bist Du da?

 

Alexander erwacht, weiß aber nicht sogleich wodurch. Bettina tritt ein und entdeckt Alexander.

 

BETTINA. Hey, hast Du geschlafen? Sorry, aber Deine Klingel ist kaputt, darum bin ich durch den Garten.

ALEXANDER überrascht. Betty!

BETTINA. Bin ich zu früh? Ich hätte doch noch mal anrufen sollen.

ALEXANDER. Nein, ich habe unsere Verabredung nicht vergessen, ich weiß nur im Moment gerade nicht, welchen Tag wir heute haben.

BETTINA. Freitag. Es ist kurz nach vier. Wir hatten doch vier gesagt, oder?

ALEXANDER. Ja, klar. Gib mir einen Moment, um wach zu werden. Magst Du einen Kaffee?

BETTINA. Kaffee klingt gut. Darf man hier rauchen?

ALEXANDER. Lieber draußen – auf der Terrasse. Walid mag den Geruch nicht.

BETTINA. Walid! Ist er da?

ALEXANDER. Nein, er … Walid ist…

BETTINA. Ich hatte mich darauf gefreut, ihn kennen zu lernen.

ALEXANDER. Entschuldige mich einen Augenblick.

BETTINA. Sicher. Ist alles in Ordnung, Alex?

 

Alexander antwortet nicht. Er geht durch die Flurtür hinaus. Bettina fühlt sich ungemütlich, störend. Sie schaut sich um, ohne ihren Platz nahe der Terrassentür zu verlassen. Die Zigarette, die sie hervorgeholt hatte, zündet sie nicht an. Nach einer Weile kehrt Alexander zurück. Er hat mit ein wenig Wasser die Müdigkeit bekämpft, sich gekämmt und seine Kleidung geordnet.

 

ALEXANDER. Mir ist das peinlich, Betty, ich habe unsere Verabredung sogar im Handy eingespeichert. Aber momentan bin ich ziemlich durch den Wind. Ich weiß nicht mal, wo ich Kaffee habe. Walid macht uns immer Mokka. Das kann er besser als ich.

BETTINA. Ist etwas vorgefallen? (ehrlich:) Du siehst ziemlich scheiße aus!

ALEXANDER. Walid ist im Krankenhaus.

BETTINA. Oh, fuck! Was Ernstes?

ALEXANDER. Er hatte einen Unfall … er liegt im künstlichen Koma.

BETTINA. So schlimm?

ALEXANDER. Ja! … Sie können nicht sagen, ob er überlebt, und wenn er überlebt, ob er wieder so wird, wie er war.

BETTINA. Ach, Alex, lass Dich mal in den Arm nehmen.

 

Bettina geht zu Alexander hin, nimmt ihn in den Arm und drückt ihn kräftig.

 

BETTINA. Sag mir, wenn ich was tun kann, hörst Du?

 

Einen Augenblick schweigen sie. Dann löst sich Alexander aus der Umarmung.

 

ALEXANDER. Ich bin so wütend, Betty, ich bin so verdammt wütend!

BETTINA. Wütend?

ALEXANDER. Ich werde niemandem den Gefallen tun, schwach zu sein. Dann kann ich mich auch gleich erschießen. Aber das kommt nicht in frage. Diese rassistischen Arschlöcher kriegen uns nicht klein.

BETTINA. Welche rassistischen Arschlöcher, Alex?

ALEXANDER. Es war kein Unfall, Betty. Die Nazi-Schweine haben ihn gejagt. Es war eine Treibjagd. Durch die Stadt. Walid war in Panik. Er hatte Todesangst. Und dann ist er vor den Bus gelaufen. Sie haben ihn auf die Straße getrieben – mit voller Absicht! Sie wollten ihn töten!

 

Bettina nimmt auf dem Sofa Platz und holt einmal tief Luft.

 

BETTINA. Gibt es dafür Zeugen, Alex?

ALEXANDER. Eine Stadt, Betty, eine ganze Stadt!

BETTINA. Dann lassen sich die Schuldigen ermitteln – meinst Du nicht?

ALEXANDER. Da wär ich nicht so sicher.

BETTINA. Warum nicht?

ALEXANDER. Keine Ahnung. Vielleicht will man das ja gar nicht.

BETTINA. Das klingt ein bisschen nach Verschwörungstheorie. 

ALEXANDER. Kann sein. … Seit wir die Flüchtlinge haben, kriechen wieder die braunen Fratzen aus ihren Löchern. Ich hätte nicht gedacht, wie viele das noch sind. Aber Moorum scheint voll davon zu sein. Und ich habe nicht das Gefühl, dass es irgend-jemanden wirklich interessiert.

BETTINA. Du hast Angst um Deinen Sohn, Alex, …

ALEXANDER unterbricht sie. Nein, nein, nein, Betty! Ich habe Angst, natürlich, aber meine Angst verzerrt nicht meine Wahrnehmung. Das war nicht der erste Angriff auf Walid. Und Walid ist nicht das erste Opfer. Du hast wahrscheinlich von dem Brandanschlag auf das Asylbewerberheim gehört, mit dem toten Kleinkind. Das konnte man natürlich nicht verheimlichen. Aber die vielen persönlichen Angriffe auf Menschen mit „undeutschem“ Aussehen in den letzten Monaten – die will keiner an die große Glocke hängen.

BETTINA. Bist Du Dir sicher, dass es wirklich so viele sind? Hier in Moorum?

ALEXANDER. Ich war mir nicht sicher, Betty. Gar nicht sicher. Ich habe mit Walid sogar darüber gestritten…

 

Die Bühnenbeleuchtung verändert sich und schafft eine grau-braune Atmosphäre der Erinnerung. Die Haustür fällt zu, Schritte auf dem Flur. WALID JESSEN betritt die Bühne. Er ist ein schlanker, zierlicher junger Mann, dem deutlich seine tunesischen Wurzeln anzusehen sind. Walid ist aus der Puste und zittert vor Wut.

 

WALID. Wie lange willst Du es noch leugnen, Paps?

ALEXANDER. Was denn leugnen, Walid?

WALID. Du weißt genau, wovon ich spreche. Moorum ist ein rassistisches Nazi-Loch!

ALEXANDER. Walid!

WALID. Ich weiß, Du willst davon nichts wissen. Nichts hören, nichts sehn, nichts sa-gen!

ALEXANDER. Walid, sag mir einfach, was passiert ist. Wenn es wichtig ist, will ich es auch wissen.

WALID. Es ist „wichtig“… Djamal ist verprügelt worden.

ALEXANDER spontan sarkastisch. Hat er wirklich mal dem Falschen die Freundin aus-gespannt?

WALID. Ich wusste, dass es keinen Zweck hat.

ALEXANDER. Walid, warte, bitte, das war eine saudumme Bemerkung. Sorry!

WALID. Hältst Du mich für bescheuert? Ich kann unterscheiden, warum Djamal die Fresse poliert wird! Diesmal war es, weil er Djamal heißt und sich mit Bernd Hohlscheider angelegt hat und nicht, weil er fremdgebaggert hat.

ALEXANDER. Erzähl mir alles.

 

Alexander setzt sich an den Esstisch.

 

WALID. Da gibt´s nicht viel zu erzählen. Djamal hat ein Interview im Internet gegeben, bei NOC. Er hat die URWURST-Schläger beschuldigt, den Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim verübt zu haben. Am nächsten Tag haben ihn die Nazis abgefischt und verprügelt.

ALEXANDER. Welche Nazis?

WALID. Welche Nazis! Bernd Hohlscheider und der private Sturmtrupp von „Die Moorumer“.

ALEXANDER. Walid, ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? „Die Moorumer“ ist eine Wählergemeinschaft voller Spinner und Spießer, aber echte Rassisten sehen anders aus.

WALID. Echte Rassisten sehen anders aus? Meinst Du das ernst?

ALEXANDER. Hohlscheider und Möckel sind doch keine Nazis!

WALID. Alfons Hohlscheider hetzt systematisch gegen Flüchtlinge. Er meint sicher nicht die Hundekacke, wenn er davon faselt, dass sein Moorum wieder „sauber“ werden muss. Und sein debiler Ableger macht die Drecksarbeit für ihn – Bernd ist ein brutaler Schläger.

ALEXANDER. Bernd Hohlscheider ist ein Möchtegern-Rocker.

WALID. Jemand, der dem Freund seiner Schwester das Nasenbein bricht, ist für Dich also bloß ein „Möchtegern-Rocker“!?

ALEXANDER. Du hast recht, Bernd ist brutal. Aber der Freund seiner Schwester war doch kein Ausländer. Bernd zofft sich mit jedem, der ihm nicht passt.

WALID. Du willst es einfach nicht sehn!

ALEXANDER. Ich bin auch nicht bescheuert, Walid! Natürlich gibt es bei uns Ewig-Gestrige, Rasissten und Leute, die sich einen Adolf zurück wünschen. Die wird es leider immer geben. Aber daraus eine Bewegung zu konstruieren, die Moorum systematisch von Ausländern säubern will, das ist mir ein bisschen zu abgedreht.

WALID. Bernd und sein Sturmtrupp haben das Flüchtlingsheim in Brand gesetzt und ein Kind getötet. Djamal weiß, was er sagt.

ALEXANDER. Warum redet er darüber öffentlich? Im Internet! Er kann sich doch denken, wie das endet.

WALID. Weil Djamal kein Feigling ist! Weil er mutig ist und allen klar machen will, was hier los ist, was für ein Nazi-Kaff Moorum ist. Und jetzt hat er drei gebrochene Rippen, eine Gehirnerschütterung, haufenweise Quetschungen und einen Lungenanriss.

ALEXANDER. Das klingt übel.

WALID. Ist das alles, was Dir dazu einfällt?

ALEXANDER. Was soll ich machen, Walid? Was willst Du von mir hören?

WALID. Widerstand, bevor es zu spät ist.

ALEXANDER. Wir sind doch nicht im Dritten Reich.

WALID. Hitler ist auch demokratisch gewählt worden.

ALEXANDER. Ich sehe bei uns keinen Hitler, Walid. Hohlscheider ist ein Ärgernis, maximal!

WALID. Bei der Kommunalwahl haben „Die Moorumer“ aus dem Stand fünf Ratsmandate geholt. Hohlscheider und Möckel haben sogar Direktmandate ergattert. Es gibt viele „gute Bürger“ in Moorum, die Hohlscheiders Hetze gegen Flüchtlinge und die „Verschwuchtelung“ unserer Gesellschaft unterstützen.

ALEXANDER. Ja, die gibt es. Es gibt eben viele Menschen, die Angst haben.

WALID. Angst? Vor Flüchtlingen und Schwulen?

ALEXANDER. Angst vor allem Möglichen. Angst davor, den Job zu verlieren, beraubt zu werden oder vergewaltigt. Angst, die Kinder nicht durchbringen zu können, keine Rente mehr zu kriegen oder ganz einfach nur davor, dass das eigene Umfeld immer fremdartiger wird.

WALID. Das sind ja tolle Gründe, um Menschen zusammenzuschlagen und Flüchtlingsheime abzufackeln.

ALEXANDER. Ich meine nicht Verbrecher, die andere vermöbeln und Asylantenheime anzünden, Walid. Ich meine ganz normale Leute, denen alles etwas zu schnell geht. Die nicht mitkommen und sich abgehängt fühlen. Solche Menschen mögen einfache Lösungen, und wählen darum Politiker, die ihnen einfache Lösungen versprechen.

WALID. Und das findest Du ok?!

ALEXANDER. Das finde ich nicht ok, aber ich kann es nicht ändern. Und ich kann es teilweise auch versteh´n. Manches geht mir auch gegen den Strich, wenn ich ehrlich bin.

WALID angriffslustig. Da bin ich gespannt.

ALEXANDER. Muss man zum Beispiel an Flughäfen und Bahnhöfen Flüchtlinge begrüßen wie frisch gebackene Weltmeister? Mit Klatschen, Luftballons und Teddybären? Müssen wir der ganzen Welt immer wieder auf penetrante Art und Weise zeigen, dass wir Deutschen keine Nationalsozialisten mehr sind? Beweisen, wie tolerant wir sind? Wie aufgeschlossen und phänomenal gastfreundlich? (er wartet kurz auf eine Reaktion, die Walid aber nicht zeigt) Das ist doch ein kindisches Verhalten, Walid, ohne jedes Selbstbewusstsein. Wir Deutschen hecheln immer wieder nach dem Schulterklopfen anderer Länder. Wir wollen von amerikanischen, französischen und englischen Medien hören, wie großartig wir sind. Das geht mir zum Beispiel auf den Geist!

WALID ist nicht überzeugt. Ich bin immer noch gespannt.

ALEXANDER. Wie kann man sich hinstellen und sagen, „Wir schaffen das“? Wir integrieren einfach mal so wildfremde Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und machen sie zu selbständigen Mitbürgern in unserem Land. Wie soll das funktionieren? Es gibt ja sogar Verständigungsprobleme zwischen Niedersachsen und Bayern oder Sachsen und Westfalen. Nachbarn, die im gleichen Dorf aufgewachsen sind, streiten wie die Kesselflicker. Aber Menschen, die einen ganz anderen Glauben und andere Wertvorstellungen haben, sollen hier völlig problemlos Fuß fassen können? Und Menschen ohne jede Ausbildung sollen die heiß ersehnte Entlastung für unseren Fachkräftemangel sein? Walid, das ist doch absurd! Wir können nicht jeden, der in unser Land will, aufnehmen und integrieren.

WALID. Willst Du die Grenzen schließen und Flüchtlinge abweisen?

ALEXANDER. Ich will keine Flüchtlinge abweisen.

WALID trotzig. Du hast doch gesagt, dass wir nicht jeden aufnehmen können.

ALEXANDER. Es kommen ja nicht nur Flüchtlinge.

WALID. Es kommen Menschen, denen es schlecht geht, die unsere Hilfe brauchen.

ALEXANDER. Wir können aber nicht allen helfen! Wer das versucht, riskiert den sozialen Frieden in unserem Land.

WALID. Das heißt was?

ALEXANDER. Denkst Du, dass wir Menschen integrieren können, für die es eine Sünde ist, nackt am Strand zu liegen? Für die die Gleichberechtigung von Frau und Mann undenkbar ist? Oder Menschen, die Homosexualität bestrafen wollen?

WALID. Stimmt, ich glaube auch nicht, dass wir Hohlscheider und Möckel integrieren können. Die fordern ja „Alle nackten Titten verbieten“, „Alle Frauen zurück an den Herd“, „Neue Gaskammern für Ausländer und Schwule“! Welchen „sozialen Frieden“ willst Du retten? Bevor wir mit dem Finger auf andere zeigen, sollten wir zu allererst unseren deutschen Saustall ausmisten.

ALEXANDER. Ich denke nicht, dass wir in einem Saustall leben, Walid. Wirklich nicht.

WALID zitiert Martin Luther King. „I have a dream, that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color or their skin but by the content of their character“!

ALEXANDER. Martin Luther King.

WALID. Am Lincoln Memorial in Washington. In Deinem Geburtsjahr 1963. Vor dreiundfünfzig Jahren! Amerika ist immer noch kein Land, in dem die Menschen allein aufgrund ihres Charakters beurteilt werden.

ALEXANDER. Das glaube ich auch.

WALID. Glaubst Du etwa, dass Deutschland so ein Land ist?

ALEXANDER zögert kurz. Natürlich nicht. (Zäsur) Kein Land der Erde wird jemals so ein Land sein. Dazu sind wir Menschen gar nicht fähig, andere allein nach ihrem Charakter zu beurteilen. Auch Du nicht, Walid! Wir haben alle unsere Schubladen. Den einen können wir nicht riechen, bei dem anderen gefällt uns die Nase nicht, und bei dem Dritten stört uns die quäkende Stimme. Martin Luther King hat ein Ideal beschworen, nach dem wir streben sollten, ja! Das wir aber niemals erreichen werden.

WALID. Du kotzt mich an! Du hast für alles eine Ausrede! Du hast für jeden noch so beschissenen Rassisten Verständnis!

ALEXANDER ist betroffen. Was soll das jetzt, Walid?

WALID mit Tränen in der Stimme. Dein Sohn wird angepöbelt, weil er nicht Deutsch aussieht, ihm werden Schläge angedroht, weil er schwul ist, und Du sagst, das wäre nicht zu ändern, weil die Menschen nun mal sind, wie sie sind?!

ALEXANDER. Wer droht Dir Schläge an, Walid? Wer sagt, dass Du schwul bist?

WALID. Ich sage, dass ich schwul bin, weil ich schwul bin! Und mein bester Freund wird halb tot geprügelt, weil er mein Freund ist und dazu steht, dass er mein Freund ist!

ALEXANDER irritiert. Djamal ist … auch schwul?

WALID. Das ist doch scheiß egal, ob er schwul ist. Wichtig ist doch nur, dass sie Djamal verprügelt haben, weil sie ihn für eine afrikanische Schwuchtel halten. Und mich werden sie auch abfischen irgendwann!

ALEXANDER. Ich dachte, sie hätten ihn verprügelt, weil er das Interview gegeben hat.

WALID. Das kommt ja noch dazu. Aber wir werden doch schon seit Jahren belächelt und bepisst!

ALEXANDER. Walid, ich habe nicht gewusst, dass Du bedroht wirst. Und auch nicht, dass Du mit Djamal…

WALID unterbricht ihn. Ich bin nichts mit Djamal! Und Du weißt nie was!

ALEXANDER. Wenn Du mir nichts erzählst.

WALID. Djamal muss ich nichts erzählen, der versteht mich auch so. Auch Mama hat alles ohne Worte verstanden. Ihr musste ich auch nichts erzählen. Vielleicht liegt das ja an unserem afrikanischen Blut. Wir haben eben eine andere Seele. Und Du bist halt doch bloß ein Deutscher!

ALEXANDER ist verunsichert. Das überrumpelt mich, Walid. Darauf habe ich so aus der Hüfte kein gute Antwort.

WALID. Du hattest noch nie gute Antworten! Aber ist auch egal. Ich muss jetzt los!

 

Walid will gehen.

 

ALEXANDER. Warte! Wo willst Du hin?

WALID. Ins Krankenhaus – zu Djamal!

 

Walid eilt hinaus. Die Bühnenbeleuchtung verändert sich und verbreitet wieder die Sommeratmosphäre der Gegenwart.

 

ALEXANDER zu Bettina. Das war unser letztes Gespräch. Er war noch bei Djamal im Krankenhaus. Dann, auf dem Heimweg, haben sie ihn (angewidert:) „abgefischt“.

BETTINA. Er wird es schaffen, Alex! Ganz sicher! Er ist Dein Sohn!

 

Kurzes Schweigen.

 

BETTINA. Ich kann mich noch gut an Deinen Unfall erinnern, wir waren sechzehn oder siebzehn. Du bist betrunken vom Balkon gefallen.

ALEXANDER tonlos. Wir hatten gesoffen und gekifft.

BETTINA. Du wolltest Anja imponieren und bist auf das Geländer geklettert. Ich war so wütend auf Dich, weil Du Dich wegen dieser blöden Ziege zum Hampelmann gemacht hast. Ich wollte unsere Freundschaft aufkündigen. Und dann fällst Du einfach runter und mir bleibt nur noch diese scheiß Angst um Dich!

ALEXANDER. So schlimm?

BETTINA. Schlimmer. Anja hat gelacht. Die war genauso bekifft wie Du. Und alle anderen haben mit gelacht. Keiner hat gerafft, dass Du vielleicht tot bist. Ich hätte Anja die Fresse polieren können.

ALEXANDER. Hättest Du sie umbringen können?

 

Bettina mustert Alexander schweigend.

 

ALEXANDER. Was glaubst Du, Betty, gibt es Mörder, die noch nie getötet haben?

BETTINA denkt kurz nach. Ich hätte Anja bloß die Fresse poliert. Ich habe noch nie ernsthaft daran gedacht, jemanden zu töten, Alex!

 

Kurzes Schweigen.

 

BETTINA. Was geht in Dir vor?

ALEXANDER. Warum habe ich nicht mitbekommen, dass Walid Probleme hat? Warum hat er nie mit mir gesprochen?

BETTINA denkt kurz nach. Ich weiß noch gut, wie enttäuscht mein Vater war, als ihm klar wurde, dass ich Dich nicht heiraten würde. Ich glaube unsere Eltern haben seit der ersten Klasse fest damit gerechnet, dass wir beide eines Tages ihre Enkelkinder groß ziehen werden. Wir waren doch für alle das logische Ehepaar, so dicke wie wir immer waren. (Lächelt bei der Erinnerung:) Neulich hab ich „Flashdance“ wiedergesehen. Unglaublich! Wir waren, glaub ich, neunzehn oder zwanzig, als wir uns den Film zusammen im Kino angesehen haben. Anschließend hast Du nur noch von Jennifer Beals geschwärmt und mir gesagt, wie geil Du sie findest.

ALEXANDER erinnert sich. Du hast gelacht.

BETTINA. Ja, und Dir gesagt, dass ich sie ebenfalls geil finde. Wahnsinnig geil! (lacht kurz)

ALEXANDER. War ich der Einzige, der gewusst hat, dass Du auf Frauen stehst?

BETTINA. Mit meinen Eltern habe ich jedenfalls nicht darüber gesprochen. Nie!

ALEXANDER nickt verstehend. Ich wollte alles besser machen als unsere Eltern.

BETTINA. Unsere Eltern waren nicht so schlecht. Und Du bist sicher auch nicht schlechter. Es gibt Dinge, die man nur mit seinen besten Freunden teilt. So, wie wir das damals gemacht haben. Alle Welt hält uns für das Traumpaar, dabei himmeln wir ständig dieselben Frauen an. Das ist doch verrückt!

ALEXANDER. Ja, verrückt. (überlegt kurz:) Warst Du auch in Hayet verliebt?

BETTINA. Ein bisschen eifersüchtig war ich schon. Aber nein, Alex, nicht wirklich. Ich mochte Deine Frau sehr. Vielleicht war sie der liebenswerteste Mensch, der mir je begegnet ist. Aber verliebt war ich in sie nicht. Ich habe mich für Dich gefreut. Ehrlich gefreut. Und ich habe Deinen Schmerz gespürt, als ich hörte, dass Hayet gestorben ist.

ALEXANDER. Walid kommt nicht damit zurecht, dass seine Mutter nicht mehr da ist. Ich habe es nie geschafft, diese verschissene Lücke zu schließen.

BETTINA. Das kannst Du auch nicht schaffen, Alex. Das kann niemand. Aber Du kannst für Deinen Sohn da sein, so wie Du bist. Walid braucht sicher keinen Vater, der ihm seine Mutter ersetzen will. Er braucht einfach nur einen Vater, der ihn so liebt, wie er nun mal ist.

ALEXANDER. Ich habe Angst, Betty. Ich habe Angst davor, dass ich die Gelegenheit dazu nicht mehr bekommen werde.

BETTINA. Ich weiß.

 

Schweigen.

 

BETTINA. Er wird nicht sterben, Alex!

ALEXANDER. Und wenn er nicht stirbt, aber trotzdem nicht mehr leben wird?

BETTINA überlegt kurz, ob sie das Folgende erzählen soll. Meine Lebenspartnerin Kim Nerius hat in ihrem aller ersten Video-Blog von einem jungen Mann berichtet. Der wurde als Teenager von seinem Stiefvater missbraucht und schließlich halb tot geprügelt. Der Junge lag wochenlang im Koma. Schließlich haben ihn die Ärzte aufgegeben. Seiner älteren Schwester, die damals selbst erst neunzehn war, wurde die Entscheidung darüber frei gestellt, die Geräte, die ihren Bruder am Leben hielten, abzuschalten. Die Ärzte hatten ihm keine Chance mehr auf ein lebenswertes Leben gegeben. Allein die Schwester hat an ihren Bruder geglaubt. (kurze Zäsur) Moritz Nerius ist kurz darauf aus dem Koma erwacht. Gesundheitliche Schäden sind ihm erspart geblieben. Er ist wieder völlig gesund geworden. Heute ist er der Geschäftspartner seiner Schwester Kim und mein Schwager sozusagen. Meine Lebenspartnerin produziert gemeinsam mit ihrem Bruder Moritz den Video-Blog „NOC – Nerius On Crime“ im Internet. Ich mag das Format nicht besonders. Ich kann auch nicht verstehen, warum die beiden ausschließlich über Verbrechen und Verbrecher berichten. Aber viel wichtiger ist ja, dass sich Kim und Moritz gegenseitig niemals aufgeben würden. (kurze Zäsur) Gib Deinen Walid auch nicht auf, Alex! Nie! Er kommt zu Dir zurück!

ALEXANDER. Er muss. Sonst werde ich zum Mörder!

BETTINA. Ganz sicher nicht! Ich kenne Dich besser. Du mordest höchstens in Gedanken. Genau wie ich.

 

Kurzes Schweigen.

 

ALEXANDER. Bist Du mir böse, wenn ich Dich jetzt rausschmeiße, Betty? Ich möchte zu Walid ins Krankenhaus.

BETTINA. Soll ich Dich fahren?

ALEXANDER. Nein, ich gehe zu Fuß. Es ist nicht weit.

BETTINA. Ruf mich an, wenn ich helfen kann! Versprochen?

ALEXANDER. Versprochen!

 

Sie nimmt ihn noch einmal in den Arm und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.

 

ALEXANDER. Ich bringe Dich zur Tür!

 

Bettina und Alexander gehen zusammen hinaus in den Flur. Die Bühnenbeleuchtung verändert sich und schafft erneut die grau-braune Atmosphäre der Erinnerung. DR. HAYET JESSEN betritt das Wohnzimmer durch den Garten. Sie hat ein paar frisch abgeschnittene Gartenblumen dabei, die sie in eine Vase stellt. Plötzlich krümmt sie ein Schmerz. Hayet muss sich setzen. Sie atmet schwer. ALEXANDER kommt herein und schaut sie sorgenvoll an.

 

ALEXANDER. Hast Du wieder Schmerzen, Hayet?

 

Alexander geht zu ihr und nimmt ihre Hand.

 

HAYET schwach aber intensiv. Hör mir bitte gut zu, Habib. Ich werde nicht mehr lange bei euch sein. (Da er sprechen will, legt sie ihm zwei Finger auf die Lippen) Unterbrich mich nicht! Ich habe so viele Menschen sterben sehen, ich weiß, wenn es so weit ist. Wir müssen das akzeptieren.

ALEXANDER ist verzweifelt. Walid braucht Dich. Ich brauche Dich!

HAYET. Du musst Dich kümmern um Walid. Er ist nicht fest. Er sucht sich noch. Er hat einen steinigen Weg vor sich. Sei nicht zu streng mit ihm, wenn Du seine Gefühle nicht verstehst. Er hat eine zierliche Seele. (kurzes Schweigen) Du bist viel stärker als Du weißt, Habib. Ich bin so froh, dass wir uns gefunden haben. Unser Leben war größer als der Tod. (kurzes Schweigen) Ich werde bei Dir bleiben in Walid. Wenn Du ihm in die Augen schaust, dann wirst Du auch einen Teil meiner Seele finden. Ganz sicher!

ALEXANDER. Gib uns noch ein bisschen Zeit, Hayet, bitte! Das kann doch noch nicht unser ganzer Weg gewesen sein. So kurz!

HAYET. Unser Weg endet doch nicht, wenn ich auf der Erde nicht mehr neben Dir gehe. Unser Weg wird noch lang sein. Du bist mit Deinem Verstand viel zu sehr im Irdischen verfangen, Habib.

ALEXANDER. Bewusst zu sein, das ist für mich das Leben, das ich denken kann, Hayet. Alles andere kann ich mir nicht vorstellen.

HAYET sehr zärtlich. Hast Du denn so gar nichts von mir gelernt, Habib?

ALEXANDER. Zu lieben! Ich hab von Dir gelernt zu lieben. Das war mir nicht möglich, bevor ich Dich getroffen habe.

HAYET. Dann vergiss es nicht, und liebe unseren Sohn. Er braucht Deine Liebe. Du weißt noch nicht, wie sehr er sie braucht. Walid muss ein langes Leben leben! Das wünsche ich mir. (sehr eindringlich) Versprich mir, dass sein Leben nicht vor seiner Zeit zerbricht, Habib. Pass auf ihn auf! Versprich es!

ALEXANDER. Natürlich, Hayet, natürlich verspreche ich es Dir!

 

Sie blickt ihm tief in die Augen und streicht ihm mit den Fingern über die Stirn.

 

HAYET heiter verschmitzt. Bist Du noch so stark wie früher, Mann? Kannst Du mich noch in den Garten tragen?

ALEXANDER versucht, ihre Heiterkeit zu erwidern. Bist Du noch so leicht wie früher, Weib?

HAYET. Du bist frech, Mann!

 

Alexander hebt sie mit ein wenig Mühe aus dem Sessel und schnauft merklich durch.

 

HAYET lacht. Oh, Du wirst alt, Mann! (sehr zärtlich) Aber ich liebe Dich, Habib!

ALEXANDER. Halt Dich fest!

 

Alexander eilt mit seiner Frau auf dem Arm durch die Terrassentür hinaus in den Garten. Hayets helles lebensfrohes Lachen ist zu hören. Es hallt noch nach und erlischt zusammen mit der Bühnenbeleuchtung.

 

ENDE ZWEITER AKT.