Sieville


Erster Aufzug

Acht der neun Darsteller sind auf der Bühne. Die Position der Stühle und der Darsteller beim ersten Aufzug zeigt die Abbildung:

MAYA BLUMENAU hockt im Schneidersitz in der Mitte der Spielfläche. Sie ist barfuß, trägt nur ein leichtes schwarzes Top und eine enge schwarze Leggings. Ihre linke Schulter, ihr Schulterblatt und der linke Oberarm sind großflächig mit Drachen und dunklen Symbolen tätowiert. Einen dünnen schwarzen Schlauchschal hat sie sich komplett über das Gesicht gezogen. Maya ist auffallend dünn, ihre Körperhaltung zeugt von Niedergeschlagenheit.

Auf einem Stuhl hinter der Spielfläche sitzt ALMA SIEVEN. Alma trägt ein weißes, weites Gewand aus einem leichten Stoff, dazu Mokassins. An ihren Ohren hängen schwere wertvolle Ohrringe. Links neben ihr sitzt ihr Ehemann CARL SIEVEN. Carl ist eine große hagere Erscheinung. Er trägt eine leichte dunkle Hose, ein weißes Seidenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und hellbraune Slipper. Alma und Carl tragen FFP2 Atemschutzmasken.

Auf einem Stuhl hinten rechts neben der Spielfläche sitzt CARLA SIEVEN verkehrt herum, mit Brust und Bauch gegen die Stuhllehne gewendet. Carla trägt ein Sport Top, eine weinrote Haremshose und Flip-Flops. Ein moderner Kurzhaarschnitt rundet das sportlich legere Erscheinungsbild ab. Als Mund-Nasen-Schutz trägt Carla eine Stoffmaske in Sieville-Design mit aufgedrucktem Logo.

WOLFGANG „WOLF“ MAYER steht hinten links neben der Spielfläche, genau gegenüber von Carla. Einen Fuß hat er auf die Sitzfläche seines Stuhles gestellt. Er ist mit der Sichtung von Nachrichten in seinem Smartphone beschäftigt. Im Lauf der ersten Szene setzt er sich hin, bleibt jedoch mit seinem Smartphone beschäftigt. Wolf trägt einen leichten Maßanzug, ein teures Businesshemd, eine Seidenkrawatte und passendes Schuhwerk. Genau wie Carla trägt Wolfgang eine Stoffmaske in Sieville-Design.

Ganz vorne links sitzt KIM NERIUS neben dem Schilderwald. Kim trägt Shorts, ein pastellgelbes, sommerlich weites Leinenhemd und pastellfarbene Segeltuchslipper. Ihr Mund-Nasen-Schutz ist eine Einwegmaske.

WALID JESSEN hockt neben seinem Stuhl vorne recht am äußersten Bühnenrand. Die Sitzfläche des Stuhls verwendet Walid als Tischplatte, auf der er seinen City Bag abgestellt hat. Er hört über Ohrhörer, die mit seinem Smartphone in der Seitentasche des City Bag verbunden sind, Musik der Dark-Rock-Band Dunkelgrau. Walid trägt eine hellgraue Cargo Hose, ein schwarzes Langarmshirt mit dem Logo von Dunkelgrau und Boots. Sein Mund-Nasen-Schutz ist eine Stoffmaske mit dem LGBT-Regenbogen. Links neben Walid steht der leere Stuhl von Maya. Darunter liegen ihre teuren, nach dem Laufen lässig hingeworfenen Laufschuhe.

Auf der rechten Seite der Spielfläche zwischen Walid und Carla sitzt ACHIM BLUMENAU. Achim hat sein graues Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Der struppige Bart quilt an den Seiten seines Mund-Nasen-Schutzes mit dem Logo des Sophie-Scholl-Gymnasiums in Moorum hervor. Achim trägt ein grau-braunes Sweatshirt, Jeans und Bootsschuhe.


Erste Szene

Nach einer Weile schaltet WALID die Musik aus, nimmt die Ohrhörer und die Schutzmaske ab, steht auf, schultert seinen City Bag und geht hinüber zu dem Schilderbaum. Dort dreht er das Hinweisschild „Sieventhal“ zu den Zuschauern. Anschließend geht er auf dem Laufsteg ein paar Schritte in Richtung Spielfläche. WALID betrachtet MAYA, die apathisch wirkt und regungslos in ihrer Stellung verharrt. Schließlich geht WALID vor bis an den Rand der Spielfläche. Dort bleibt er stehen.

MAYA tonlos. Ich bin nicht da.

WALID schmunzelnd. Das sehe ich.

MAYA schweigt.

WALID geht ein, zwei Schritte auf Maya zu. Ich habe Deine Demoaufnahme mit Dunkelgrau gehört. Dein Schlagzeugsolo ist mega, der absolute Hammer!

MAYA teilnahmslos. Wie schön.

WALID optimistisch. Wenn Du das beim Sieventhal Open Air spielst…

MAYA unterbricht ihn. Es gibt kein Open Air mehr!

WALID beschwichtigend. Vielleicht nicht mehr in diesem Jahr.

MAYA zieht sich den Schlauchschal aus dem Gesicht unters Kinn und faucht. Auch nicht im nächsten Jahr! Oder im übernächsten. (im Stakkato) Ü-berhaupt nicht mehr!

WALID. Das ist doch Schwachsinn!

MAYA trotzig. Du bist Schwachsinn!

WALID geht zu MAYA hin und neben ihr auf die Knie, dabei legt er seinen City Bag ab.

WALID. Was ist mit Dir los?

MAYA emotional. Alles ist dicht! Kapierst Du das?

WALID. Ich weiß, dass alles dicht ist. Eine Vorsichtsmaßnahme, um die Infektionszahlen zu verringern.

MAYA. Und das glaubst Du! (blickt ihn verständnislos an) Keiner wird die Infektionszahlen verringern!

WALID. Ach, nein?

MAYA. Nein!

WALID. Sagt wer?

MAYA. Sag Ich! Ich hab das schon immer gesagt. Das war´s!

WALID. Das war was?

MAYA. Mit unser ´m Leben. Mit der Welt, wie wir sie kennen.

WALID nimmt sie nicht ernst. Klingt ziemlich dramatisch.

MAYA wegwerfend. Na, und? Ist mir doch egal! Sind sowieso zu viele Menschen auf der Erde.

WALID sachlich. Bald acht Milliarden.

MAYA. Eben.

WALID versucht, die Stimmung aufzulockern. Acht Milliarden potentielle Fans von Dunkelgrau.

MAYA zieht eine Grimasse, die ein „Haha, was haben wir gelacht!“ zum Ausdruck bringt.

WALID. Okay, Du bist mies drauf. Wollen wir trotzdem heute Pizza machen?

MAYA. Pizza, Nudeln, scheißegal! Ich dachte sowieso Du bist bei Deinem Finn.

WALID hat es ihr schon mehrfach erzählt. Finn ist bei seinen Eltern.

MAYA beißend. Und die dürfen immer noch nicht wissen, dass ihr Prinzlein schwul ist?

WALID wird langsam ungeduldig. Sie wissen, dass Finn (betont) bi ist. Er macht ja kein Geheimnis daraus.

MAYA misstrauisch. Wie wer?

WALID. Wie viele andere.

MAYA. Und wer speziell?

WALID. Keiner „speziell“! (er steht auf) Wie lange willst Du noch den sterbenden Schwan geben, Maya?

MAYA. Ich geh Dir auf die Nerven.

WALID. Ehrlich? (Zäsur) Ja!

MAYA. Schon lange. Am liebsten wärst Du mich doch los. Überleg mal: das hätte nur Vorteile für Dich. Dann könnte Finn zum Beispiel hier einziehen.

WALID versucht, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Genau! Und wir könnten endlich heiraten, Finn und ich. Alles nur Deine Schuld, dass das nicht geht.

MAYA emotionslos. Ich kann mich ja umbringen, dann hast Du Deine Ruhe.

MAYA zieht sich wieder den Schlauchschal über das Gesicht.

WALID kennt Mayas Launen. Ich mache erst mal Pizza (er will gehen).

MAYA zieht den Schlauchschal wieder vom Gesicht. Das ist typisch!

WALID bleibt stehen.

MAYA provozierend. Tabuthema!

WALID fühlt sich unwohl. Ich denke nicht, dass wir jetzt über Selbstmord reden müssen.

MAYA. Ich mache schon mal Platz! Was ist daran so schlimm?

WALID versucht, der Situation die Schwere zu nehmen. Dass ich für Finn nicht mehr interessant bin. Er steht nämlich eigentlich nur auf Dich und Deine Musik.

MAYA. Egoist! Ich bin für Dich also nur Mittel zum Zweck.

WALID. Was dachtest Du denn?

MAYA. Aber wenn ich keine Musik mehr machen kann, dann ist Feierabend. Das steht fest! Ohne Musik hab ich keinen Bock mehr! Was soll das Ganze dann noch?

WALID leicht genervt. Ich hab´s gecheckt, Maya. Kann ich jetzt Pizza machen?

MAYA. Warum macht ihr alle so ein Drama um das Sterben?

WALID gebremst emotional. Weil wir vielleicht leben wollen?

MAYA. Ist das noch Leben? Das scheiß Maskentragen, Verbote hier, Verbote da, keine Kneipe, kein Theater, kein Konzert. Alles geht den Bach runter! Und wir hocken da, und lassen uns das alles bieten! Die machen uns fertig. Die wollen uns fertig machen!

WALID. Wer „Die“?

MAYA. Die Politiker, die Entscheider, die, die die Macht haben, was weiß ich! Das ist doch nicht echt, das ist doch gemacht! Wir sollen irre werden und zu Kreuze kriechen!

WALID. Und warum?

MAYA. Weil es so nicht mehr weiter geht. Weil alles verkehrt läuft. Weil keiner mehr den Durchblick hat.

WALID. Weil keiner mehr den Durchblick hat?

MAYA. Ja! Denk doch mal nach! Es läuft doch alles schief. Immer mehr Menschen auf der Welt, die immer älter werden – wie ein Krebsgeschwür für die Erde! Die Umwelt ist zerstört, wir haben keine Energie mehr, keine Rohstoffe! Und überall nur Verbote! Die Leute verlieren ihren Job, wir dürfen nicht mehr Reisen, bald müssen wir ´ne Marke ziehen, wenn wir auf die Straße gehen wollen! Leben? Das stelle ich mir anders vor!

WALID matt. Das wird sich wieder ändern. Das ist doch nur für kurze Zeit. Ein paar Monate vielleicht.

MAYA. Glaubst Du! Ich glaube das schon lange nicht mehr. Ach, was! Das ist das Ende, glaub mir!

WALID. Das Ende von was?

MAYA überzeugt. Von der Menschheit. Von dem Leben auf der Erde! (leichthin) Aber mir soll´s recht sein, ich hab eh kein Bock mehr.

WALID. Dann kann ich ja jetzt Pizza machen.

MAYA. Ich esse keine Pizza.

WALID ist genervt. Du isst keine Pizza?

MAYA. Ich bin zu fett! Kuck mich mal an! Ich hab schon Monsterringe am Bauch! (zieht ihr Top ein Stück hoch und zeigt ihre kaum vorhandenen Bauchfalten) Ich hab zu viel gefressen in den letzten Tagen. Kekse, Schokolade, Gummibärchen. Das hört jetzt erst mal wieder auf!

WALID meint es eigentlich nicht ernst. Warum gehst Du nicht noch mal ´ne Runde Joggen?

MAYA blickt ihn finster an. Richtig! (sie steht auf) Ich geh Joggen!

WALID erschöpft. Du warst doch schon Joggen!

MAYA im Gehen. Na, und? Dann lauf ich halt noch mal! Ist ´ne gute Idee! Gibt eh zu viele Dicke auf der Welt.

WALID blickt MAYA hinterher, die nach rechts von der Spielfläche abgeht zu ihrem Stuhl. Dort hockt sie sich hin und schlüpft in ihre Laufschuhe.

WALID ist Maya an den Rand der Spielfläche gefolgt. Wenn Du wiederkommst ist Pizza fertig.

MAYA steht auf. Warte nicht auf mich, kann länger dauern!

MAYA läuft nach links, überquert den Laufsteg und verlässt die Bühne. WALID geht nachdenklich zu seinem Stuhl, nimmt Platz und setzt sich seinen Mund-Nasen-Schutz wieder auf.


Zweite Szene

KIM NERIUS steht auf und dreht am Schilderbaum das Hinweisschild „Sieville“ zu den Zuschauern. Dann nimmt sie ihren Mund-Nasen-Schutz ab und geht über den Laufsteg zum Rand der Spielfläche. Dort bleibt sie kurz stehen, ein Innehalten vor dem Betreten eines unbekannten Raumes. Schließlich betritt sie die Spielfläche. Sie macht ein paar Schritte in den imaginären Raum hinein und schaut sich um, während sie auf ihre Verabredung wartet. Dabei meidet sie das rechte vordere Viertel der Spielfläche, so, als läge dort ein besonders edler oder sogar heiliger Teppich, den man nicht einfach so betreten darf.

Wenige Augenblicke später steht CARLA SIEVEN auf. Sie nimmt ebenfalls ihren Mund-Nasen-Schutz ab und holt ein Smartphone aus ihrer Hosentasche. Mit Blick auf das Smartphone betritt sie von hinten die Spielfläche. Sie wirkt ein wenig gehetzt.

CARLA nimmt Kim aus den Augenwinkeln wahr. Sorry, wartets Du schon lange?

KIM macht eine Geste, die ausdrücken soll: „Nicht der Rede wert!“.

CARLA mit leichter Unruhe. Ich versuche schon den ganzen Tag, Maya zu erreichen, meine Tochter, aber sie geht nicht ran! Ich muss doch wissen, ob sie nächste Woche kommt! Das mit dem Fliegen ist ja etwas kompliziert geworden in letzter Zeit. Gott sei Dank, sind wir nicht auf Linienflüge angewiesen!

Carlas Smartphone gibt die Erkennungsmelodie für einen Anruf von WOLF MAYER wieder. CARLA lehnt den Anruf ab.

CARLA. Nein, Wolf, jetzt nicht!

Auf seinem Platz außerhalb der Spielfläche macht WOLF MAYER eine missmutige Geste und steckt sein Smartphone erst einmal weg. CARLA schaltet ihr Smartphone auf „stumm“.

CARLA entschuldigend. Es ist ein wenig hektisch heute! Aber jetzt bin ich ganz bei Dir! Hallo, Kim, ich bin Carla!

CARLA tritt an den Rand des imaginären „edlen“ Teppichs, schlüpft dort aus ihren Flip-Flops, legt neben den Flip-Flops ihr Smartphone ab und betritt barfuß das „heilige Rechteck“. Dort lässt sie sich mit dem Rücken zur rechten Bühnenseite im Schneidersitz nieder.

CARLA gesammelt und ruhig zu Kim. Magst Du zu mir kommen?

KIM zögert kurz, tritt dann von links an den imaginären Teppich heran, zieht die Schuhe aus, die sie mit dem Fuß achtlos aus dem Weg schiebt, und betritt ebenfalls das „heilige Rechteck“. Der einladenden Geste von CARLA folgend, nimmt KIM mit dem Rücken zur linken Bühnenseite in einem abgewandelten Schneidersitz – ihr linkes Bein hat sie gerade ausgestreckt – gegenüber von CARLA Platz.

CARLA. Bist Du zum ersten Mal in diesem Raum?

KIM mit leichtem Unbehagen. Ich denke schon.

CARLA. Magst Du ihn?

KIM unbewusst lauernd. Ich bin mir nicht sicher.

CARLA. Ich finde, er hat etwas Spirituelles. Auf eine unaufdringliche Weise.

KIM nicht überzeugt. Möglich. (Kurzes Innehalten) Allerdings habe ich die letzten Wochen in Sieville eher als weltlich empfunden.

CARLA. Schließt das eine, Deiner Meinung nach, das andere aus?

KIM überlegt kurz. Darüber muss ich mal nachdenken.

CARLA. Wie lange bist Du jetzt schon bei uns?

KIM. Fast sechs Wochen.

CARLA schmunzelt. Bergfest! (Zäsur) Wie ist Dein Eindruck von Sieville bisher?

KIM tastet nach den richtigen Worten. Wie gesagt, sehr weltlich. Ich meine, ihr macht auf mich keinen weltfremden Eindruck. Alles wirkt angenehm – geerdet. Nichts „Sektenhaftes“ oder so (ihr huscht ein unsicheres Lächeln über das Gesicht und sie registriert, dass Carla auch schmunzeln muss). Ich hatte keine Ahnung, was mich hier erwartet. Ich hatte auch keine speziellen Vorstellungen. Ich war bloß neugierig.

CARLA. Du warst „neugierig“?

KIM. Ziemlich. Als ich in der Klink war, hat mir ein Freund von Sieville erzählt. Echt krass, was ihr hier auf die Beine gestellt habt, meinte er. Und das finde ich eigentlich auch.

CARLA. Was ist denn das „Krasseste“, was Dir hier begegnet ist?

KIM entfährt ein Lachen. Außer diesem Raum? (sie registriert, dass Carla nur „milde“ lächelt, und beschwichtigt) Nein, Scherz! (überlegt) Ich weiß nicht, die ganze Idee ist ziemlich cool: ein Ort der Forschung und von Menschen, die nicht altern – so steht es doch in eurem Programm? – Sieville ist die Brücke in die Zukunft.

CARLA korrigiert sanft. „Sieville soll der Ort gemeinsamen Lernens und Gestaltens sein. Ein Ort des Fortschritts und einer Menschheit, die niemals altert. Sieville schlägt die Brücke in die Zukunft.“ So steht es in unserer Gründungscharta, (bestätigt Kim) Du hast recht! (mustert Kim) Möchtest Du gemeinsam mit uns lernen und gestalten? Möchtest Du mit uns eine Brücke in die Zukunft schlagen?

KIM überlegt einige Sekunden. Was meint ihr damit, dass die Menschheit niemals altern soll?

CARLA lächelt. Für mich heißt das, dass wir als Menschengemeinschaft immer zu Veränderungen bereit sein müssen. Es darf keinen Stillstand in unseren Köpfen geben. Wir dürfen nicht an überholten Gewohnheiten festhalten, nur weil wir zu träge sind, neu zu denken und Neues zu probieren. Und wir dürfen keine Denkverbote tolerieren. Denken, diskutieren, gemeinsam ausprobieren. Und nicht davor zurückschrecken, das eine oder andere zu korrigieren oder auch zu revidieren. Stets offen sein für neue Ideen und Entwicklungen. Das verstehe ich unter einer Menschheit, die nicht altert.

KIM nickt schweigend. Sie wirkt nachdenklich und ein bisschen misstrauisch.

CARLA. Verstehst Du etwas anderes darunter?

KIM verneint durch ein leichtes Kopfschütteln. Ich denke, das ist eine kluge Interpretation.

CARLA vorsichtig. Darf ich Dich etwas fragen, Kim? Etwas sehr Persönliches?

KIM nickt zustimmend. Sie wirkt gespannt.

CARLA. Du hast von einem Klinikaufenthalt gesprochen.

KIM offen. Im letzten Jahr hatte ich einen Zusammenbruch. Ich war leer. Geistig, körperlich und emotional.

CARLA überlegt jedes Wort genau. Hat diese Erfahrung etwas mit Deinem Interesse für Sieville zu tun?

KIM muss nicht überlegen. Ja, bestimmt, ganz sicher! Du weißt wahrscheinlich, dass ich meine Kohle mit Berichten über Kapitalverbrechen gemacht habe. Je abgefahrener die Geschichte, je besser für die Quote. In dieser Zeit hätte ich mich bestimmt nicht mit einer Sache wie Sieville beschäftigt. Dazu muss man erst mal auf die Schnauze fallen.

CARLA. Du bist „auf die Schnauze gefallen“?

KIM. Ich war zwanzig Stunden am Tag nur damit beschäftigt, die nächste geile Story zu casten. Den Mord, den Totschlag, die Vergewaltigung, die mehr Menschen interessieren als alle Nachrichtensendungen von Öffentlichen und Privaten zusammen. Zwanzig Stunden an sieben Tagen, zweiundfünfzig Wochen lang. Und im nächsten Jahr noch mal von vorn. Das hat meine Lebenspartnerin nicht mitgemacht, und Freunde findet frau bei diesem Lebenswandel auch nicht.

CARLA. Mord, Totschlag und Vergewaltigung sind Dein Lebensinhalt gewesen?

KIM als würde sie es selbst erst jetzt begreifen. Ich denke schon. (kurzes Innehalten) Gewalt hat mich gepusht.

CARLA findet den Ausdruck ungewöhnlich. „Gepusht“?

KIM. Sie hat mich angefixt, gepowert. Für mich bestand die Welt eigentlich nur aus Tätern und Opfern. Und für die Opfer habe ich meine Berichte gemacht. Das war mir wichtig. Extrem wichtig!

CARLA. Und zu welcher Kategorie hast Du Dich selbst gezählt?

KIM macht eine fast hilflose Geste. Na, zu den Opfern sicher nicht! Ich war ja da für die Opfer. Ich habe die Scheiße ja ans Tageslicht befördert. Es gibt so viel Gewalt, über die kein Mensch ein Wort verliert. So viel wird unter den Teppich gekehrt, Du glaubst es nicht!

CARLA. Dann bist Du eine Kämpferin für mehr Gerechtigkeit? Kann man das so sagen?

KIM meint einen ironischen Unterton wahrzunehmen. Für Dich ist das bestimmt naiv! Betty hat das auch nicht verstanden.

CARLA. Betty ist Deine Lebenspartnerin?

KIM wirkt melancholisch. War meine Lebenspartnerin.

CARLA lässt bewusst einen Moment der Stille zu. Dann wechselt sie das Thema.

CARLA. Kim, weißt Du schon, ob Du Sievillianerin werden möchtest?

KIM ist sich nicht sicher. Ich müsste demnächst mal einen Antrag stellen, richtig?

CARLA. Bis zum Ende der dreimonatigen Kennenlern-Phase sollte der Antrag beim Aufnahmekomitee sein. Spätestens. Besser früher. Er muss ja noch geprüft werden. Und Du willst sicher nicht erst abreisen und neu anreisen, sondern gleich im Anschluss in Dein Probejahr starten.

KIM fühlt sich etwas mulmig. Wie sieht das dann aus? Wie geht das weiter mit dem Probejahr?

CARLA ist erst sachlich, dann werden mehr und mehr ihr Engagement und ihre Begeisterung spürbar. Wie gesagt, wenn Dein Antrag vom Aufnahmekomitee akzeptiert wird, dann folgt das Probejahr als Newcomerin. In dieser Probezeit wird von Dir erwartet, dass Du Dich durch Arbeit und der Beteiligung an dem „Sieville Life“ in unsere Gemeinschaft integrierst. Momentan leben fast dreitausend Menschen in Sieville, die aus mehr als fünfzig Ländern kommen. Das ist eine ziemliche Herausforderung. Bei uns treffen ja ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander, Menschen mit völlig gegensätzlichen Gefühlen und Vorstellungen von dem was richtig oder falsch ist. Trotzdem wollen wir hier gemeinsam und gleichberechtigt ein friedliches und nachhaltiges Gemeinwesen aufbauen. Dazu müssen wir uns gegenseitig wahrnehmen. Wir müssen akzeptieren, dass wir verschieden sind. Nur mit irgendeiner Art von Toleranz kommen wir hier nicht weiter. Wenn du nicht in der Lage bist, die Ansichten und Lebensvorstellungen der Anderen zu akzeptieren, dann hast du in Sieville nichts verloren. Wir wollen uns natürlich auch streiten und uns aneinander reiben. Aber wir müssen offen für das Fremde sein. Und wir müssen es zulassen, dass wir wechselseitig voneinander lernen. Veränderung ist keine Einbahnstraße. Für mich ist unser Sieville-Projekt ein faszinierendes Experiment. Wir haben keine vorgefertigten Rezepte oder Formeln. Alles entsteht aus uns selbst heraus. Das ist auch ein Wagnis, aber ein lohnendes, wenn Du mich fragst.

KIM ist sehr nachdenklich. Klingt cool – aber auch verdammt anstrengend. Ich weiß nicht, ob ich das auf die Reihe kriege. Ich bin doch ziemlich chaotisch.

CARLA möchte Kim für Sieville gewinnen. Du stehst ja nicht alleine da. Wir stellen Dir eine Mentorin oder einen Mentor zu Seite. Diese Person wird Dich durch die Probezeit begleiten. Er oder sie wird Dich mit unserem Verhaltenskodex und dem Miteinander in Sieville vertraut machen. Viele Regeln haben wir nicht, aber ein paar Dinge musst Du natürlich wissen, wenn Du eine vollwertige Sievillianerin werden willst. Und am Ende des Probejahres teilt Deine persönliche Begleitperson dem Aufnahmekomitee ihre Einschätzung über Dich mit. Und da geht es nicht darum, ob Du mit allem hier einverstanden bist. Wir wollen ja niemanden „auf Linie bringen“. Aber wir wollen auch etwas von Dir haben: Deine Überzeugung, Dein Engagement, Deine Kreativität, Deine Individualität und Dein Offenheit. (Kurzes Innehalten) Der gesamte Sieville-Rat entscheidet schließlich darüber, ob Du unsere (mit einem Augenzwinkern) „Einwanderungsurkunde“ erhältst und eine von uns bist, eine Sievillianerin.

KIM zögert.

CARLA. Es ist gut, dass Du überlegst, Kim. Bei vielen ist die Euphorie am Anfang groß, und nach wenigen Monaten ist ihre Ernüchterung umso größer. Einige glauben anscheinend, wir würden hier die Welt retten, und sie könnten ein bisschen von dem Glanz der Weltenrettung für sich selbst reklamieren. Aber niemand kann in Sieville schnelle Erfolge feiern. Wir sind keine Sprinter, wir sind Langstreckenläufer. Gott sei Dank, sind wir total frei von national-staatlichen Einflüssen, aber wir haben auch keinen Einfluss auf die aktuelle Politik anderer Länder. Die Mächtigen stehen nicht bei uns Schlange, um sich unseren Rat zu holen. Wir können nur Meinungen veröffentlichen, Seminare ausrichten, Vorträge halten und in den verschiedenen Medien über uns und unsere Ideen berichten. Wir können auch Initiativen und Forschungsvorhaben finanzieren, aber ob unsere Entwürfe und Ergebnisse irgendwann einmal global gesehen zu besseren Gesellschaften führen werden, das steht in den Sternen. Ich werde es mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr selbst erleben.

KIM nickt verstehend. Das klingt echt ziemlich krass. Du hast ´ne ziemliche Portion Idealismus getankt, oder?

CARLA mag Kims Offenheit. Ich glaube, ich bin einfach nur neugierig. Genau wie Du.

KIM ist tatsächlich neugierig. So ein Probejahr könnte ich mir durchaus vorstellen. (Kurzes Innehalten) Unter einer (überlegt kurz und entscheidet sich gegen den Begriff „Bedingung“) Voraussetzung?

CARLA schaut KIM erwartungsvoll an.

KIM. Kannst Du meine Mentorin sein?

CARLA denkt nach. Ein Mitglied des Aufnahmekomitees darf nicht Mentor sein. (Kurzes Innehalten) Ich müsste also meinen Platz im Komitee zur Verfügung stellen.

KIM beobachtet sie. Würdest Du das tun?

CARLA begegnet ihrem Blick und streckt ihr schließlich die rechte Hand entgegen. Deal?

KIM nickt gedankenvoll und schlägt dann ein. Deal!


Dritte Szene

CARL SIEVEN hat sein Smartphone hervorgeholt und einen Anschluss aus seinem Telefonverzeichnis gewählt. Kurz darauf spielt das Smartphone von WOLF MAYER die Erkennungsmelodie für CARL. WOLF MAYER nimmt den Anruf an. Er hat eine präzise, mäßig laute aber recht schnelle Sprechweise, die immer ein bisschen gehetzt wirkt.

WOLF professionell heiter. Carl! Was kann ich gegen Dich tun?

Während CARL mit WOLF telefoniert, stehen CARLA und KIM auf, nehmen ihre abgelegten Utensilien mit und verlassen die Spielfläche. Sie gehen zu ihren Stühlen zurück, nehmen dort wieder Platz und setzen sich ihre Masken auf. KIM stellt ihre Schuhe neben ihrem Stuhl ab.

CARL hat sich seine Maske unters Kinn gezogen und ist aufgestanden. Wolf, wir müssen reden! Irgendjemand hat Wind davon bekommen, dass wir uns mit Tony Greyde getroffen haben.

WOLF ist in keiner Weise alarmiert. Was ist daran so schlimm? Haben wir Geheimnisse?

CARL ist leicht erregt. Humbug! Es geht nicht um Geheimnisse! Ich will aber nicht, dass getuschelt wird. Du weißt doch, wie schnell sich Gerüchte verbreiten.

WOLF versteht Carls Bedenken nicht. Was denn für Gerüchte, Carl? Wir treffen uns doch ständig mit Wissenschaftlern auf der ganzen Welt. Das gehört sozusagen zu unserem Selbstverständnis in Sieville. Zukunftsforschung ist unser Kerngeschäft. Genau!

CARL überzeugt das nicht. Humbug, Wolf, hör mit diesen Floskeln auf! Hast Du Greydes letztes Interview gelesen? Da geht es nicht mehr um die Frage, ob es überhaupt menschenmöglich ist, den Tod abzuschaffen, da geht es nur noch darum, wie schnell wir es hinkriegen, die Lebensspanne eines Menschen bis zur Unendlichkeit zu verlängern. Greyde behauptet vollmundig, dass der erste Mensch, der tausend Jahre alt werden kann, bereits geboren wurde.

WOLF ungerührt. Ich kenne das Interview. (amüsiert) Und ich weiß, wie Tony Schlagzeilen macht. Kein Grund zur Sorge, Carl.

CARL resolut. Ich will das nicht! Ich will nicht, dass die Leute denken, hier in Sieville werden Zombies gezüchtet!

WOLF versteht nicht. Was hat denn Sieville damit zu tun?

CARL rückt mit einer Neuigkeit heraus. Wolf, ich habe die Verträge unterzeichnet! (Zäsur) Greyde bekommt hier bei uns sein Forschungszentrum. Die modernsten Labore, die er sich nur wünschen kann. Alles vom Feinsten! (Er bemerkt, dass es Wolf die Sprache verschlagen hat, und versucht seinen Alleingang herunterzuspielen) Das belastet nicht das Stiftungsvermögen der Sieville Foundation, das bezahle ich selbst.

WOLF weiß, dass Carl noch nicht mit Carla darüber gesprochen hat. Und was sagt Carla dazu? Ist sie begeistert?

CARL kleinlaut. Humbug!

WOLF ruhig, aber mit sanfter Ironie. Das ist ja mal eine gelungene Überraschung zu Deinem achtzigsten Geburtstag! Chapeau, Carl, das hätte ich selbst Dir nicht zugetraut.

CARL. Du musst ihr das beibringen, Wolf! Ich habe keine Lust, mich ständig vor meiner eigenen Tochter rechtfertigen zu müssen. Mit meinem Geld mache ich, was ich will!

WOLF vollendet für Carl. Basta!

CARL versucht, versöhnliche Töne anzuschlagen. Ich weiß, dass wir alles, was Sieville betrifft, zusammen entscheiden wollen. Aber das betrifft nicht Sieville. Das ist mein Projekt. Das hat mit Sieville nichts zu tun.

WOLF mit ruhiger Bestimmtheit. Wenn sich das so darstellt, dann solltest Du es Deiner Tochter selbst beibringen, Carl. Ich bin ja nur Geschäftsführer der Foundation, nicht Dein Privatsekretär. Wir können das auch heute im Jour Fixe thematisieren! Genau. Das machen wir so! Ich habe leider noch einen Call! Ciao, Carl, bis später. (er beendet das Telefonat)

CARL ist wie vor den Kopf gestoßen. Wolf! (horcht ins Smartphone) Hast Du etwa aufgelegt? (er steckt sein Smartphone ein und setzt sich wieder) Verdammt, jetzt tanzen mir schon meine Angestellten auf der Nase rum!

CARL bemerkt, dass er von ALMA streng gemustert wird.

CARL unwirsch. Ich weiß, was Du sagen willst!

CARL zieht die Maske wieder über Mund und Nase.


Vierte Szene

ACHIM BLUMENAU nimmt sich nicht den Mund-Nasen-Schutz ab. Er geht zum Schilderbaum. Er dreht das Hinweisschild „Moorum“ zu den Zuschauern. Dann setzt er sich auf den Laufsteg. Kurz darauf betritt MAYA von rechts die Bühne und geht weiter auf die Spielfläche. Sie hat zwei Einkaufstüten bei sich. Auf der Spielfläche blickt sie sich suchend um, wie in der Diele eines Wohnhauses.

MAYA ruft. Achim? Bist Du da?

ACHIM ruft zurück. Dein alter Herr ist im Garten!

MAYA hat ihn gehört, sie stellt die Einkaufstüten auf den Boden, zieht sich ihren Schlauchschal über Mund und Nase und geht von der Spielfläche auf den Laufsteg.

MAYA verhalten sonnig. Moin, „alter Herr“!

ACHIM. Hallo, Biene! Hast Du alles bekommen?

MAYA. Na, klar, Du wirst in den nächsten drei Tagen nicht verhungern. (Sie will zu ihm hin).

ACHIM. Bleib lieber auf Abstand, ich habe das Testergebnis noch nicht bekommen.

MAYA besorgt. Wie fühlst Du Dich denn?

ACHIM entspannt. Ich fühle mich gut. Wie immer. (scherzt) Fit, wie ein gut eingelaufener Turnschuh! (betrachtet sie besorgt) Aber Du machst mir Sorgen. Du bist blass! Hast Du schon wieder abgenommen?

MAYA wiegelt ab. Weiß nicht, ich steig nicht täglich auf die Waage. Und das Blasse kommt von diesem ätzenden Nasenfummel hier!

ACHIM nickt, obwohl er ihr die Erklärung nicht abnimmt. Den brauchst Du hier im Garten nicht! Wirst mich schon nicht anstecken. (Zäsur) Willst Du Dich nicht einen Augenblick setzten, oder musst Du gleich wieder los?

MAYA hockt sich auf den Boden und zieht sich den Schlauchschal aus dem Gesicht.

ACHIM wechselt das Thema. Sollst Du nicht nächste Woche nach Sieville fliegen? Zu Carl Sievens Jubelfeier?

MAYA wirkt melancholisch. Ist der Achtzigste ein Grund zum Jubeln? (kurzes Innehalten) Ich weiß noch, als ihr Opas Sechzigsten gefeiert habt.

ACHIM ist skeptisch. Da warst Du gerade mal vier Jahre alt.

MAYA ist überzeugt. Ich kann mich trotzdem noch erinnern. Wir sind alle zusammen nach Florida geflogen. Als Familie.

ACHIM verwundert. Du hast recht! (kann seine Verachtung nicht verbergen) Das war ´ne fette Party. Sonne, Strand, Champagner, geiles Essen, geile Live-Mucke und mindestens 300 extraordinäre Gäste.

MAYA. Warum willst Du nächste Woche nicht mit nach Sieville fliegen?

ACHIM. Das weißt Du doch.

MAYA. Ich verstehe es nicht!

ACHIM. Wie oft haben wir darüber gesprochen?

MAYA. Ich verstehe es trotzdem nicht! Ihr seid nicht geschieden. Du hast keine neue Freundin. Ihr habt immer für die gleichen Sachen gekämpft. Ihr hab euch noch nicht einmal ernsthaft gestritten. Und trotzdem hast Du Dich mit Mama in den letzten zehn Jahren weniger als zehn Mal getroffen!

ACHIM glaubt selbst nicht an diese Ausrede. Deine Mutter ist als Vize-Präsidentin der Sieville Foundation mordsmäßig beschäftigt.

MAYA. Bullshit!

ACHIM. Außerdem kann ich in dieser Situation hier jetzt nicht weg.

MAYA. Deine Schule ist geschlossen!

ACHIM sucht nach Ausreden. Wir müssen Pläne machen, wie es weiter gehen soll mit der Pandemie. Wir müssen eLearning-Angebote aufbauen, Hygienekonzepte ausarbeiten und so weiter. Dabei kann ich die Kollegen nicht im Stich lassen. Außerdem weißt Du doch gar nicht, ob Privatflüge nicht auch verboten werden.

MAYA. Du willst nicht mit!

ACHIM zögert, dann zieht er sich seinen Mund-Nasen-Schutz unters Kinn und gibt es zu. Nein, ich will nicht! (Mayas Schweigen zwingt ihn dazu, weiterzusprechen) Sieville ist nicht meine Welt. Mir ist das alles zu bombastisch. Zu verlogen! Carla glaubt bestimmt an das, was sie da tut, aber ich kann darin keinen Sinn erkennen! Wenn ich mir die Milliarden Dollar vorstelle, die Dein Großvater in diese elaborierte Scheinwelt investiert! Wie viele Schulen und Bildungseinrichtungen damit unterstützt werden könnten! Stattdessen gefallen sich weltfremde Intellektuelle darin, über Gott und die Welt zu philosophieren. Eine lockere Angelegenheit, wenn man weit weg ist von dem Alltag in unseren Schulen und der Realität auf unseren Straßen. (Kurzes Innehalten) Aber ich will Dir nicht Deine Reise verderben. Mein Frust ist mein Frust, und soll nicht Deiner werden. Ich finde nur, (Zäsur) Du machst auf mich nicht den Eindruck, als würdest Du Dich mordsmäßig auf Sieville freuen.

MAYA klingt nicht überzeugend. Ich muss mit Opa meine Doktorarbeit abstimmen. Ich weiß immer noch nicht, wie ich das angehen soll. Ich kann das aber nicht länger auf die lange Bank schieben.

ACHIM ist besorgt. Lass Dich von Deinem Großvater nicht unter Druck setzen. Du musst deine Doktorarbeit nicht über Sieville schreiben. Es gibt tausend andere bildungswissenschaftliche Themen.

MAYA will sich selbst glauben. Ich bin nicht unter Druck! Alles easy! (Steht auf) Aber ich muss jetzt los, Walid wartet auf mich!

ACHIM steht auch auf. Sag ihm, dass er auf Dich aufpassen soll, (droht scherzhaft) sonst lade ich ihn nie wieder zum Grünkohlessen ein!

MAYA gespielt. Ich bin okay, Paps! Niemand muss auf mich aufpassen! Schick mir ´ne Message, sobald Du Dein Testergebnis hast.

ACHIM. Mach ich. Versprochen!

MAYA wirft ihm einen Luftkuss zu. Werde mir nicht krank, ich brauch Dich noch!

ACHIM erwidert den Luftkuss. Tschüss, Biene!

MAYA nimmt den Weg über den Laufsteg und die Spielfläche, die sie auf der rechten Seite verlässt, und geht zu ihrem Stuhl. Dort setzt sie sich, flechtet ihre Beine ineinander und zieht sich den Schlauchschal lose über den Mund. ACHIM geht zu den Einkaufstüten, die Maya ihm mitgebracht hat. Er überprüft kurz deren Inhalt, nimmt sie dann auf und geht nach links von der Spielfläche und verlässt die Bühne.


Fünfte Szene

KIM steht auf und nimmt sich ihren Mund-Nasen-Schutz wieder ab. Sie betritt barfuß den Laufsteg, geht zum Schilderwald und dreht das Hinweisschild „Sieville“ zu den Zuschauern. Anschließend macht sie ein paar Schritte, so, als spaziere sie im Sand zwischen Dünen dahin. KIM genießt die Luft und die Stille des Ortes, sie blickt sich um und lässt sich entspannt nieder. Dann zieht sie ihr Hemd aus und breitet es als Unterlage aus. KIM trägt keinen BH. Sie legt sich auf ihr Hemd, um sich mit blankem Oberkörper zu sonnen.

ALMA steht auf, nimmt ihre FFP2-Maske ab und setzt sich eine Sonnenbrille auf. Dann betritt sie von hinten die Spielfläche und schlendert hinüber zum Laufsteg. Sie wirkt, als mache sie einen Spaziergang am Strand oder zwischen Dünen. Sie genießt die Sonne, das Rauschen des Meeres und die gute Luft. Am Anfang des Laufstegs bleibt ALMA stehen und beobachtet einen Augenblick die junge hübsche Frau, die sich sonnt.

ALMA freundlich. Das ist ein schöner Platz, nicht wahr?

KIM schreckt hoch und zieht sich rasch ihr Hemd wieder über. Sorry, ich habe Sie nicht gehört.

ALMA mit einem rauchigen Lachen. Wofür entschuldigen Sie sich? Als junge Frau habe ich auch jede Gelegenheit genutzt, um mich im Evaskostüm der Sonne hinzugeben. (Scherzt) Heute will das aber keiner mehr sehen (lacht rauchig). Sie sind noch nicht lange hier?

KIM. Ein paar Wochen.

ALMA. Gefällt Ihnen unser Sieville? Ich bin übrigens Alma.

KIM hat sich gefangen. Alma Sieven, Carlas Mutter? (Sie steht auf und knöpft zwei, drei Knöpfe von ihrem Hemd zu)

ALMA kommt näher. Carla haben Sie also schon kennengelernt.

KIM. Ja, sie will meine Mentorin werden. (Streckt ihr die Hand entgegen) Ich bin Kim Nerius.

ALMA mustert Kim und gibt ihr dann die Hand. Willkommen in Sieville, Kim Nerius!

KIM hat ihr Schamgefühl abgelegt und fühlt sich erleichtert. Danke!

ALMA sachlich. Carla muss ihren Sitz im Aufnahmekomitee abgeben, wenn sie Ihre Mentorin wird.

KIM mit einem Anflug von Stolz. Das will sie tun!

ALMA. Erstaunlich! (Kurzes Innehalten) Dann gefällt es Ihnen also in Sieville, wenn Sie den Aufnahmeantrag stellen wollen. Das freut mich. Wir können junge, engagierte Mitstreiterinnen sehr gut gebrauchen. (In verschwörerischem Ton) Wir haben hier einen leichten Männerüberschuss.

KIM findet Alma sympathisch. Sind Sie das ganze Jahr über hier in Sieville?

ALMA schwankt zwischen Zutrauen und Distanz. Mittlerweile fühlt es sich so an. Aber ich begleite meinen Mann auch oft auf seinen Reisen. Wir möchten ja gerne noch mehr Menschen für Sieville begeistern. Vor allem Wissenschaftler, Zukunftsforscher und Mediziner. Was haben Sie für einen Beruf?

KIM überlegt kurz, welche Berufsbezeichnung sie nennen will. Ich bin Journalistin.

ALMA. Journalistin. Erstaunlich. Wollen Sie über Sieville eine Reportage machen?

KIM. Das hatte ich eigentlich nicht vor.

ALMA ist misstrauisch, lächelt jedoch. Eigentlich?

KIM korrigiert sich. Nicht eigentlich, gar nicht, nein.

ALMA versucht, sich ein Bild von Kim zu machen. Verstehe. (überlegt kurz) Ist Ihnen Sieville nicht spannend genug?

KIM. Nein! Ich meine, doch, Sieville ist spannend, daran liegt es nicht. Ich möchte aber eine Zeitlang nicht mehr als Journalistin arbeiten. Ich möchte mich neu orientieren.

ALMA. Verstehe. Sie sind auf einem „Selbstfindungstripp“, wie man das heute so sagt.

KIM fühlt sich unwohl durch die Befragung. Ja, vielleicht kann man das so sagen. Ich möchte schon mehr über mich selbst erfahren. Aber auch über den Spirit von Sieville, über die Message, die von diesem Ort ausgeht. Das ist alles sehr spannend für mich.

ALMA mit ruhiger Beharrlichkeit. Was ist denn der „Spirit“ von Sieville? Was denken Sie?

KIM will nichts Falsches sagen. Naja, ich denke, der Glaube an Zukunft, an Fortschritt, (überlegt) an den Menschen. Dass er die Möglichkeit hat, zu machen, kreativ zu sein, etwas Neues zu schaffen. Besseres. Ewig jung zu sein, und so weiter.

ALMA ist hellhörig. Ewig jung?

KIM. Der Satz aus ihrem Programm, der Gründungscharta. Carla hat ihn mir erklärt.

ALMA. Was hat Sie denn gesagt? Das würde mich jetzt auch mal interessieren

KIM überlegt. Was hat sie gesagt? Dass ewig jung bedeutet, dass wir neugierig bleiben, dass wir nicht einrosten, Veränderungen zulassen. Unser Hirn nicht vertrocknet. (Mit einem vorsichtigen Lachen) Das hat sie natürlich nicht so gesagt.

ALMA. Nein, das denke ich mir.

KIM. Naja, es geht darum, dass wir offen sind. Offen für andere Meinungen, offen für verrückte Ideen. Dass wir niemanden vorverurteilen. Dass wir in der Sache streiten, aber uns gegenseitig nicht an die Gurgel gehen. Uns akzeptieren, so, wie wir nun mal sind. Auch, wenn das manchmal schwerfällt.

ALMA. Ja, das fällt oft schwer. (Kurzes Innehalten) Und dieser „Spirit“ gefällt Ihnen?

KIM. Ich denke schon.

ALMA mit einem unbestimmten Lächeln. Das ist doch gut. (Zäsur) Darf ich Sie fragen, woher Sie stammen? Aus Deutschland, nehme ich an. Aber aus welcher Ecke?

KIM. Ich bin in Sieventhal geboren, lebe aber seit einigen Jahren in Köln.

ALMA. In Sieventhal, wie interessant! Dann kennen Sie sicher auch Moorum.

KIM. Ja, klar, sehr gut. Kommt nicht Ihr Mann aus Moorum?

ALMA. Carl wurde in Moorum geboren. Korrekt. Aber seine Mutter hat Deutschland mit ihm noch vor Kriegsende verlassen.

KIM. Und sein Vater?

ALMA. Ist im Krieg gefallen. Er war Jagdflieger.

KIM. Fliegt Ihr Mann nicht auch?

ALMA. Es ist seine Leidenschaft. Korrekt. (Beeilt sich, bevor ihr KIM eine weitere Frage stellen kann) Sagen Sie, vor drei, vier Jahren, da gab es üble Nachrichten aus Moorum. Soweit ich mich erinnere, ging es um Feuer in einem Flüchtlingsheim. Ist das korrekt, oder wissen Sie darüber nichts?

KIM erinnert sich nicht gern. Doch, darüber weiß ich leider ziemlich viel.

ALMA schaut sie erwartungsvoll an.

KIM fällt es schwer, mit Alma darüber zu reden. Es war nicht meine beste Zeit als Journalistin.

ALMA weiß mehr, als sie vorgibt. Sie haben darüber berichtet? Wie interessant!

KIM. Ich hatte damals ein Internetformat, einen Video-Blog über Straftaten, Täter und Opfer. Vor allem über Opfer. Ich habe damals täglich aus Moorum berichtet.

ALMA. Einen Video-Blog über Straftaten. Das klingt ein bisschen „sensationsgeil“.

KIM schämt sich vor Alma etwas. Wie gesagt, nicht meine beste Zeit.

ALMA. Kann es sein, dass meine Enkelin Ihren Video-Blog empfangen hat?

KIM. Ja, sicher.

ALMA. Dann habe ich das damals auch gesehen. Ja, gewiss, ich erinnere mich. Sie waren nicht gerade zimperlich mit Ihrer Wortwahl und den Bildern, die Sie Ihren „Followern“ – so sagt man doch? – zugemutet haben.

KIM steht wie ein gescholtenes Schulkind vor ALMA.

ALMA. Seien Sie mir nicht böse, liebes Kind, aber ich finde diese Art von „Journalismus“ eher abstoßend als relevant.

KIM hat einen Kloß im Hals. Ich sehe das heute ähnlich wie Sie (räuspert sich).

ALMA. Das ist doch gut! Und ich hoffe sehr, dass Sie bei uns in Sieville keine Sensationen suchen, Kim Nerius.

KIM hält Almas Blick nur kurz Stand, dann schaut sie zu Boden. Ich suche nur mich selbst. (Schaut wieder auf) Ganz sicher!

ALMA nickt unbestimmt. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei. (Wieder hell und freundlich) Was für ein schöner Tag! Ich werde noch ein Weilchen über den Strand schlendern. Ade, mein liebes Kind, bis bald!

ALMA geht an KIM vorbei bis zum Ende des Laufstegs, schaut sich um, überlegt, welchen Weg sie nehmen will, und verlässt dann nach links die Bühne. KIM pustet durch, das Gespräch mit Alma liegt ihr im Magen. Schließlich nimmt sie den entgegengesetzten Weg, überquert die Spielfläche, verlässt sie auf der rechten Seite und geht rechts von der Bühne ab.


Sechste Szene

WOLF und CARL nehmen ihre Masken ab und gehen mit ihren Stühlen von hinten auf die Spielfläche. Sie stellen ihre Stühle im vorderen Teil der Spielfläche ab und setzen sich einander gegenüber hin. Einige Momente später nimmt auch CARLA ihre Maske ab und betritt ebenfalls von hinten die Spielfläche. Sie bleibt zunächst im hinteren Teil der Spielfläche stehen und mustert die beiden Männer kritisch.

CARLA gefällt es nicht, dass sie nur zu dritt sind. Wieder nur in kleiner Runde? Unser Jour Fixe entwickelt sich allmählich zur ménage à trois.

WOLF sachlich. Ich würde gerne erst mit euch alleine sprechen.

CARL angriffslustig. Soviel zu den Regeln, die Du immer wie eine Monstranz vor Dir herträgst!

WOLF. Ich denke, es ist auch in Deinem Interesse, Carl!

CARL spöttisch. Wie fürsorglich von Dir! Hat der alte Trottel wieder etwas angestellt, und der edle Wolf stellt sich schützend zwischen ihn und seine Richter?

WOLF. Bitte informiere Carla darüber, was Du mir vorhin am Telefon erzählt hast.

CARL scheut die Konfrontation mit Carla. Als Du einfach aufgelegt hast?

WOLF. Als wir vereinbart haben, das Thema im Jour Fixe zu besprechen. Genau.

CARL zögert. Er schielt zu seiner Tochter, die den Wortwechsel zwischen den Männern schweigend beobachtet hat. Sie macht nicht den Eindruck, als wolle sie Carl beispringen.

CARL räuspert sich. Na, gut. Irgendwann müssen wir ja darüber reden. Warum nicht jetzt? Das Aufhebens, das Du davon machst, verstehe ich allerdings nicht.

WOLF und CARLA blicken ihn schweigend an.

CARL räuspert sich erneut. Carla, Du weißt wahrscheinlich, wer Anthony Greyde ist.

CARLA hält sich erschrocken die Hand vor den Mund und wendet sich leicht ab.

CARL hat Carlas Reaktion wahrgenommen, versucht aber, sie zu verdrängen. Die Forschungen von Greyde sind ziemlich interessant. Ich finde, dass wir sie nicht ignorieren dürfen. (Kurzes Sammeln) Ich habe mich dazu entschlossen, seine Forschungen zu unterstützen.

CARLA kann ihre Empörung nicht länger zurückhalten. Papa! Hast Du den Verstand verloren? Greyde ist ein Scharlatan!

CARL energisch. Du kennst ihn doch gar nicht!

CARLA emotional. Was ich über diesen Verrückten gelesen habe, das reicht mir!

CARL versucht, einen ruhigeren Ton anzuschlagen. Warum bist Du so bedingungslos? Ich war auch am Anfang skeptisch, aber ich bin offen für Greydes Argumente.

CARLA kann sich nicht beruhigen. Welche Argumente? Dass man unsere Organe auswechseln soll wie Verschleißteile einer Maschine? Dass wir nur regelmäßig in die Werkstatt gehen müssen, um unser Leben Schritt für Schritt zu verlängern? Bis zur Unendlichkeit womöglich? Dafür ist Carl Sieven offen?

CARL bemüht trotzig die Gründungscharta von Sieville. Sieville soll ein Ort des Fortschritts sein und einer Menschheit, die niemals altert. Das haben wir uns selbst auf die Fahne geschrieben!

CARLA ist empört. Das ist jetzt nicht Dein Ernst! Du verdrehst den Sinn unserer Gründungscharta, um Deinen Packt mit dem Teufel zu rechtfertigen?

CARL flüchtet sich ins Süffisante. Findest Du das nicht ein bisschen theatralisch? Erst erklärst Du Greyde für verrückt und jetzt machst Du ihn auch noch zum Teufel.

CARLA sehr ernst. Mit der Unsterblichkeit zu flirten, ist in meinen Augen teuflisch!

CARL spöttisch. Ich wusste gar nicht, dass Du religiös bist!

WOLF wird die Auseinandersetzung zu explosiv. Liebe Leute, so kommen wir nicht weiter! Die Diskussion, ob Alterforschung a la Greyde sinnvoll oder „Humbug“ ist, wie Carl es gerne ausdrückt, muss geführt werden, aber bitte ein anderes Mal. Heute können wir drei das Thema ohnehin nicht abschließend klären. Aber es wäre schöne, wenn wir uns darauf verständigen könnten, wie wir künftig miteinander umgehen wollen. Genau.

CARL und CARLA schauen ihn überrascht und neugierig an.

WOLF mustert Carl und Carla kurz. Wir haben einen Verhaltenscodex für Sieville und die Foundation vereinbart. Und ich würde gerne wissen, ob wir uns daran halten wollen, oder hier jeder machen kann, was er will.

CARL verfällt erneut in seinen süffisanten Tonfall. Muss ich mir jetzt wieder Deine Belehrungen über Anstand und Moral anhören?

WOLF. Ich lege Wert, auf Klarheit, Carl. Stehen unsere Grundsätze nur auf dem Papier oder sind sie Makulatur? Gelten unsere Regeln nur für alle anderen, oder auch für Dich? Bisher bin ich davon ausgegangen, dass wir uns in Sieville alle, ausnahmslos, an die demokratisch getroffenen Vereinbarungen halten.

CARL bleibt trotzig. Humbug! Für Deine Art von Demokratie habe ich keine Zeit. Da bin ich ja längst tot, bevor ihr endlich zu einer Entscheidung gekommen seid. Ich will die Labore jetzt, und wir bauen sie jetzt!

CARLA fühlt sich überrumpelt. Was soll das heißen, wir bauen Labore?

WOLF. Dein Vater hat Verträge abgeschlossen. Er lässt in Sieville ein Institut für Altersforschung errichten. Anthony Greyde bekommt hier bei uns Labore der Extraklasse. Genau.

CARL ist wütend. Das ist doch Schwachsinn!

CARLA. Was ist Schwachsinn?

CARL äfft Wolf nach. „Labore der Extraklasse“! Völliger Humbug!

CARLA insistiert. Aber Labore für Anthony Greydes Altersforschung?

CARL fühlt sich in die Enge getrieben. Ja, verdammt! Stinknormale Labore! (Er verschränkt trotzig die Arme vor der Brust.)

Betretenes Schweigen. Es dauert eine Weile, bis Carla ihre Fassung wieder erlangt.

CARLA ist entschlossen. Papa, das geht nicht.

CARL. Papperlapapp! Was geht oder nicht geht, das entscheide ich. Ich bin euch doch keine Rechenschaft darüber schuldig, was ich mit meinem Geld anstelle.

CARLA muss ihre Wut zurückhalten. In Sieville schon. In Sieville bist Du uns Rechenschaft schuldig!

CARL. In Sieville? Was bildest Du Dir eigentlich ein? Sieville wäre gar nicht da ohne mich!

CARLA funkelt ihren Vater böse an. Dann stapft sie an ihm vorbei auf den Laufsteg wie auf einen Balkon, um an der frischen Luft erst einmal tief durchzuatmen.

WOLF mit hart erkämpfter Ruhe. Carl, Du entscheidest, ob Sieville unser gemeinsames Projekt bleibt oder nur Dein einsames!

CARL steht auf, macht ein paar Schritte hin und her, sammelt sich und spricht dann sanftmütiger, wie um Verständnis bittend. Wolf, ich möchte keine einsamen Projekte, (kurzes Innehalten) aber mir geht das alles viel zu langsam. Die Welt spielt verrückt, aber wir diskutieren über Humbug! Wir machen tolle Pläne, ja! Wir reden uns die Köpfe heiß, aber wir produzieren nichts anderes als heiße Luft! (Carl überlegt, geht hin und her) Mir ist schleierhaft, wie Du hier so ruhig sitzen kannst! Auf der ganzen Welt werden Existenzen vernichtet. Die Gesundheitssysteme brechen zusammen. Regierungen lügen, weil sie entweder mit der Pandemie überfordert sind oder einfach nur skrupellos. Weltweit haben Menschen Angst. Weltweit sterben Menschen – millionenfach!

WOLF. Und was sollen wir in Sieville daran ändern?

CARL. Wie viele Millionen Dollar lassen wir uns dieses Sieville jährlich kosten? Wie viele Geistesgrößen und Neunmalkluge lassen es sich bei uns gut gehen? Hängen ihren wirren Utopien nach oder betreiben auf unsere Kosten pseudo-wissenschaftliche Selbstbefriedigung? Sollen wir das einfach so laufen lassen?

WOLF bleibt gelassen. Mir ist noch nicht klar, worauf Du hinaus willst, Carl.

CARL wirkt plötzlich mehr traurig als wütend. Warum verschwendet Maya ihr Talent an diese dunkle Musik? Der Sänger ihrer Band klingt wie ein rostiges Schiffshorn!

WOLF ist irritiert über den scheinbaren Themenwechsel. Maya? Mir gefällt ihre Musik ganz gut. Wenn Du mich fragst, hat Maya eine steile Karriere vor sich. Genau. Sie ist eine mordsmäßige Drummerin. Und Stimme hat sie auch!

CARL empfindet wieder Zorn. Sie kann von mir aus in der Freizeit trommeln! Ihre Musik ist selbstmitleidiges Gejammer! Aber die Jugendlichen sind ja alle nur am Jammern. Da laufen sie weltweit diesem schwedischen Puppenwesen hinterher und winseln „unsere Umwelt, unsere Umwelt“! Und was tun sie für die Umwelt? Sie saufen ihre Drinks aus Plastikbechern, düsen mit Geländewagen durch die Städte und fliegen dreimal im Jahr in den Urlaub!

CARLA hat mit wachsender Ungeduld zugehört, jetzt kommt sie vom „Balkon“ zurück in den Raum. Papa, was ist Dein Problem?

CARL. Du hast kein Problem, oder? Du lässt es Dir auf meine Kosten gut ergehen! Als Vize-Präsidentin der Sieville Foundation! Ein krisenfester Job, denkst Du. Arbeiten war gestern!

CARLA zügelt mühsam ihre Erregung. Erwartest Du darauf allen Ernstes eine Antwort?

CARL. Das ist doch das Problem: wir haben keine Antwort! Auf nichts! Wir fischen vollständig im Trüben.

CARL lässt sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Er wirkt müde und resigniert.

CARL. Wolf, willst du nicht mal mit Maya reden?

WOLF ist besorgt über Carls Gedankensprünge. Worüber soll ich mit ihr reden?

CARL. Die Doktorarbeit ist doch eine gute Gelegenheit in Sieville endlich fußzufassen. Maya ist doch schon so lange nicht mehr hier gewesen. Sie muss doch alles wieder neu kennenlernen. Was hat sich nicht alles verändert in den letzten Jahren! (Zäsur, dann verzweifelt) Herrjeh, Maya muss nach Sieville kommen. Hier haben wir kein Corona. In Deutschland ist sie längst nicht mehr sicher!

WOLF hat einen Verdacht. Carl? Hast Du getrunken?

CARL empört. Nein! (Zögernd) Ja, zwei, drei Drinks! Aber darum geht es doch jetzt gar nicht!

CARLA ist genervt. Dann sag uns endlich, worum es geht, verdammt!

CARL sammelt sich, dann spricht er ruhig und entschlossen. Wir müssen jetzt unsere PS auf die Straße bringen. Entweder wir schaffen das, oder wir machen hier Schluss! Dann kann Alma Krankenhausprojekte fördern und Pflegeheime unterstützen, und die Zukunft überlassen wir dem Zufall. Ich bin ein alter Sack, ich habe sowieso keine Zukunft mehr.

WOLF. Was meinst Du damit: unsere PS auf die Straße bringen?

CARL. Wolf, wir haben so viele schlaue Köpfe hier in Sieville, aber wir überlassen das Geschick der Erde arroganten, machtbesessenen Schwachköpfen! In Deutschland werden Unsummen für eine katastrophal organisierte Energiewende verpulvert. Da werden Elektroautos gepusht, obwohl die Förderung von Lithium und Kobalt verheerende ökologische und soziale Schäden verursacht. In Osteuropa bilden sich wieder Nationalstaaten, statt auf ein einiges Europa zu setzen. Im Nahen und mittleren Osten gibt es keinen Frieden. China, Russland, Afrika, Südamerika! USA! Nenn mir eine Region auf dieser Erde, die uns Hoffnung auf die Zukunft macht! Und jetzt auch noch die Pandemie! Niemand sollte sich einbilden, dass irgendetwas auf dieser Erde jemals wieder so wird, wie es war.

Längeres Schweigen. WOLF setzt zu einer Antwort an, zuckt dann aber nur mit den Schultern. Schließlich steht er auf, sucht in dem Blick von CARLA eine Antwort und geht dann an ihr vorbei hinaus auf den „Balkon“. Jetzt braucht er frische Luft.

CARL bricht das Schweigen. Als im letzten Monat Olof Hanson starb, habe ich mir zum ersten Mal Gedanken über den Tod gemacht. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich habe in meinen achtzig Lebensjahren nie über den Tod nachgedacht. Das bedeutet nicht, dass ich den Tod verdrängt habe. Ich hatte bloß keine Angst. Er war mir egal.

CARLA schwankt zwischen Wut und Mitleid. Und jetzt hast Du Angst?

CARL ist überrascht, dass ihm nicht Wolf sondern Carla antwortet. Humbug! Ich habe keine Angst! Aber ich verliere den Glauben daran, dass wir aus Erfahrung lernen wollen. „Aus gehabtem Schaden nichts gelernt“, hat mal ein deutscher Schauspieler gesungen. Und das ist es doch: wir lernen nichts, wir sind zu dumm zum Lernen! Olof Hanson war ein irrsinnig brillanter Kopf, aber sein gesamtes Wissen ist jetzt futsch. Er hätte mindestens noch hundert Jahre weiterleben müssen, um mit seinen Ideen ein fertiges Haus zu bauen. (Kurzes Innehalten) Ohne den Architekten ist der Bau unmöglich geworden.

WOLF kommt zurück. Aber Olof hat doch, um in Deinem Bild zu bleiben, viele Baupläne hinterlassen.

CARL. Dann fang mal an zu bauen! Vielleicht wird irgendwann tatsächlich ein Haus stehen. Und mit viel Phantasie wird es vielleicht sogar irgendwie an Olof erinnern. Aber sein Geist wird nicht darin wohnen. Nie und nimmer!

WOLF. Wir sind nun mal darauf angewiesen, unsere Welt nach den Bauplänen längst Verstorbener zu bauen. Unser Leben ist endlich. Genau. Und Visionen zu verwirklichen, das dauert länger als ein Menschenleben.

CARL. Wollen wir das akzeptieren?

CARLA. Gibt es eine Alternative?

CARL spricht leise, als würde er etwas Geheimes sagen. Die Guten müssen länger leben, Carla!

CARLA zutiefst misstrauisch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich verstehen will, Papa.

CARL schaut sie fast entrückt an. Nein! Das willst Du nicht. Ganz sicher nicht. (Er schaut seine Tochter sekundenlang schweigend an, dann ist es, als würde er plötzlich aufwachen, und er schaut auf seine Armbanduhr) Mist! Ich muss los, ich habe noch einen Termin!

CARL eilt davon. Er verlässt die Spielfläche ohne seinen Stuhl und wundert sich darüber, dass der nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz steht. Schließlich setzt sich CARL auf den freien Stuhl von ALMA ohne seine Maske wieder über Mund und Nase zu ziehen. WOLF und CARLA schauen sich ratlos an.

CARLA ist perplex. Kannst Du mir sagen, was das gerade war?

WOLF zuckt mit den Schultern. Er trinkt in letzter Zeit häufiger mal einen, glaube ich.

CARLA überrascht. Er trinkt? Bist Du sicher? (überlegt) Warum macht er das?

WOLF. Wegen Olof vielleicht. Er vermisst ihn ziemlich.

CARLA versteht nicht. Wir vermissen ihn doch alle. Aber Olof war krank, das haben wir gewusst. Und er war ja auch nicht mehr ganz jung.

WOLF. Das sagt uns der Verstand. Genau.

CARLA beschäftigen andere Sorgen als die Trauer von ihrem Vater. Wolf, wir können nicht zulassen, dass Carl diese Labore baut.

WOLF möchte darauf nicht direkt antworten. Kommt Maya nächste Woche?

CARLA. Stand heute, geh ich davon aus.

WOLF. Das wird ihm guttun. Glaub mir. Maya hat ihm immer gut getan.

CARLA ist ungeduldig und besorgt. Wir können das nicht auf die lange Bank schieben, Wolf. Mein Vater schafft sonst Fakten. Das macht er immer.

WOLF holt sein Smartphone hervor und checkt seine Termine. Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Wirklich. (Versucht zu scherzen) Wir werden hier schon keine Zombies züchten.

CARLA machen solche Floskeln wütend. Fuck you, Wolf, Du willst mich abspeisen!

WOLF will sich der weiteren Diskussion entziehen. Wir reden darüber. Bald. Wir finden eine Lösung. Genau. Ich will Dich nicht abspeisen, Carla, aber ich muss jetzt auch los – wirklich! (Er deutet entschuldigend auf sein Smartphone und wendet sich zum Gehen) Ich melde mich bei Dir. Ganz bald!

WOLF eilt nach rechts von der Spielfläche und verlässt im Hintergrund die Bühne.

CARLA fühlt sich wie vor den Kopf gestoßen. Das gibt´s doch nicht! Die lassen mich hier einfach stehen. (Schreit) Hey! (Laut zu sich selbst) Euch sollte man beide …! Fuck!

CARLA macht eine resignierte, wegwerfende Geste. Dann verlässt sie über den Laufsteg die Spielfläche. Am Schilderwald dreht sie das Hinweisschild „Sieventhal“ zu den Zuschauern. Anschließend verlässt sie ebenfalls die Bühne.


Siebte Szene

MAYA steht auf und geht an den vorderen Rand der Spielfläche. Sie wirkt unruhig. Sie ist mit Walid verabredet, aber Walid ist überfällig. Das passt nicht zu ihm. Sie kontrolliert die Nachrichten auf ihrem Smartphone. Keine Nachricht von Walid. Schließlich setzt sie sich vor der Spielfläche im Schneidersitz auf den Bühnenboden und versucht, sich mit ihrem Smartphone abzulenken. WALID steht auf, nimmt sich die Maske ab und schaut auf sein Smartphone.

WALID ist wütend und besorgt. Scheiß Akku!

WALID beeilt sich. Er eilt über den Laufsteg auf die Spielfläche und blick sich um.

WALID ruft. Maya? Ich bin aufgehalten worden. Und der scheiß Akku ist schon wieder leer! (Er ist sehr besorgt) Maya, wo bist Du denn?

MAYA ruft halblaut. Ich bin hier!

WALID hat sie gehört. Er geht an den vorderen Rand der Spielfläche und schaut zu Maya hinunter.

WALID ist erleichtert. Was machst Du da?

MAYA ist erleichtert und wütend. Ich sitze da!

WALID setzt sich an den Rand der Spielfläche, so, dass seine Füße rechts neben Maya den Bühnenboden berühren.

WALID entschuldigt sich. Ich kann nichts dafür. Ich wollte schon viel eher wieder hier sein, aber die S-Bahn hatte Verspätung. Und dann ist ausgerechnet dieser beschissene Akku mal wieder im Arsch!

MAYA lakonisch. Nicht zum ersten Mal.

WALID. Das Smartphone ist auch Steinzeit. Aber ich habe kein Geld für ein neues.

MAYA bietet das nicht zum ersten Mal an. Ich könnte Dir was leihen.

WALID lehnt es nicht zum ersten Mal ab. Ja, ich weiß.

MAYA. Willst Du gar nicht wissen, wie der Test von Achim ausgefallen ist?

WALID ist erschrocken, dass er das vergessen hatte. Doch, sicher! (Er rutscht vom Rand der Spielfläche und kniet sich neben Maya hin) Maya, wie ist der Test, sag schon!

MAYA schaut ihn schweigend an, dann laufen ihr Tränen über die Wange, aber sie lächelt.

WALID ist in Hochspannung. Negativ?

MAYA schaut ihn an und nickt. Ihre Anspannung entlädt sich in einem Schluchzen. WALID umarmt sie erleichtert.

WALID kämpft ebenfalls mit den Tränen. Scheiße, Maya, bin ich froh! Ich hatte das nicht vergessen, ich war nur… boh, ich bin so froh mit Dir!

Sekundenlang verharren die beiden in ihrer Umarmung, dann löst sich MAYA aus WALIDs Umklammerung und steht auf.

MAYA wirkt nicht, als würde sie sich darauf freuen. Ich fliege dann nach Sieville.

WALID. Das ist gut.

MAYA leicht erregt. Warum ist das gut?

WALID macht eine Geste, so als würde er fragen „warum nicht?“

MAYA. Ich meine: wartest Du nur darauf, dass ich endlich weg bin?

WALID versteht sie nicht. Wieso sollte ich darauf warten, dass Du weg bist?

MAYA. Das ist doch offensichtlich! Du bist genervt von mir. Ich nerve alle. Jeder ist von mir genervt!

WALID will sie beruhigen. Das ist Schwachsinn!

MAYA. Du bist Schwachsinn! Ich weiß genau, was ihr alle denkt. Maya ist bekloppt, die redet nur Dünnschiss, die ist zu dünn, die frisst nichts, die ist gaga!

WALID ist nicht sehr überzeugend. Kein Mensch denkt das.

MAYA hört nicht zu. Selbst Achim denkt das. Er traut sich nur nicht, das ehrlich zu sagen. (äfft ihn nach) „Du machst mir Sorgen, Biene. Du bist blass! Hast Du schon wieder abgenommen?“ Ihr geht mir alle auf den Sack!

WALID versucht zu scherzen. Das hättest Du wohl gern.

MAYA zeigt ihm den „Stinkefinger“.

MAYA wechselt das Thema. Was läuft denn nun mit Deinem Finn?

WALID lächelt in Vorfreude. Wir wollen uns endlich mal wieder treffen.

MAYA. Wann?

WALID. Heute Abend. Wenn das okay für Dich ist? Ich fahre nach Moorum.

MAYA neckend. Dann gibt es heute keine Pizza?

WALID grinsend. Nicht für Dich!

MAYA macht scherzhaft ein beleidigtes Gesicht.

MAYA ehrlich besorgt. Seid bloß vorsichtig.

WALID albern. Warum? Wegen Corona oder wegen AIDS?

MAYA ist nicht zum Albern zumute. Ich mein das ernst.

WALID will nicht ernst sein. Mach hier nicht auf Achim.

MAYA. Sorry, ich nerve schon wieder. Aber glaubst Du nicht auch, dass wir nie wieder normal leben werden? Wenn das wirklich alles stimmt, dann wird das Virus doch nicht einfach so verschwinden.

WALID möchte eigentlich nicht diskutieren. Einfach so sicherlich nicht. Aber irgendwann wird es eine Impfung geben.

MAYA entschieden. Ich lasse mich nicht impfen!

WALID schaut sie nur ungläubig an.

MAYA. Du brauchst mich gar nicht so anzukucken! Ich lasse mich nicht impfen. Wenn die jetzt einen Impfstoff aus dem Hut zaubern, was soll das dann wohl sein? Bei AIDS forschen die seit Jahrzehnten rum und finden keinen Impfstoff, aber bei Corona ist das alles kein Problem? Da stimmt doch was nicht.

WALID kämpft darum, ruhig zu bleiben. Sie haben ja noch gar keinen Impfstoff.

MAYA. Aber sie reden schon davon. Soll ja alles nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten sein. Wer´s glaubt!

WALID ist erschöpft von Mayas dunklen Stimmungen. Maya, Du überforderst mich.

MAYA. Ich weiß. Darum wär´s ja auch besser, ich wäre gar nicht mehr da.

WALID will ihr Zuversicht vermitteln. Das Virus wird uns bald am Arsch vorbei gehen, Maya! Du wirst Deine Doktorarbeit schreiben, Du wirst Deine eigenen Songs komponieren, Du wirst mit Dunkelgrau wieder Konzerte geben, und Deine Fans werden kreischen, wenn Sie Deine Drums hören! (Er blickt sie flehend an) Maya, das ist eine Scheißzeit, aber sie geht vorbei.

MAYA entrückt. Glaub Du nur daran. Das ist gut. Ich will Dich mit meinem Scheiß auch gar nicht belasten. Am besten, ich halte meine Schnauze.

WALID. Ich will doch gar nicht, dass Du Deine Schnauze hältst. Ich bin Dein Freund. Du kannst mir alles sagen. Aber ich habe nicht auf alles eine Antwort.

MAYA. Wer hat das schon. (Sie schaut ihm tief in die Augen) Du musst los. Finn wartet auf Dich.

WALID ist besorgt. Ich kann auch absagen, und wir kucken Filme und futtern Popcorn.

MAYA leise aber bestimmt. Ich hasse Popcorn.

WALID zögert.

MAYA. Na, los, hau endlich ab!

WALID zieht es zu Finn. Wir sehn uns morgen?

MAYA nickt nur. WALID steigt zurück auf die Spielfläche und macht ein paar Schritte hin zum Laufsteg. Dann dreht er sich noch einmal zu MAYA um.

WALID ist nicht sorgenfrei. Bis Morgen!

MAYA macht eine Geste, die sagen soll „hau endlich ab“. WALID geht über den Laufsteg zum Schilderwald und dreht das leere Schild zu den Zuschauern. Anschließend verlässt er nach links die Bühne.

MAYA wirkt sehr in sich gekehrt. Sie betritt über die Stufen von vorn die Spielfläche, schaut sich um. Dann stellt sie die Stühle, die noch auf der Spielfläche stehen, nebeneinander an den linken Rand der Spielfläche. MAYA zieht ihre Laufschuhe aus und stellt sie ordentlich nebeneinander unter einen der beiden Stühle. Barfuß geht sie anschließend in die Mitte der Spielfläche, dorthin, wo sie auch zu Beginn des ersten Aufzugs gesessen hat, hockt sich in den Schneidersitz und zieht sich ihren Schlauchschal über das Gesicht. Ihre Hände legt sie locker mit den Handflächen nach oben zeigend auf ihren Oberschenkeln ab. So verharrt sie.


Achte Szene

CARL steht auf, er wirkt so, als wäre er allein im Dunkeln erwacht und würde nicht genau wissen, wo er ist. Fast schlafwandelnd betritt er unsicher von rechts die Spielfläche und wundert sich über die Person, die auf dem Boden hockt.

CARL. Olof? Bist Du das? (Er nähert sich der Person, die sich nicht rührt) Sie sind nicht Olof! Was machen Sie hier? (Er denkt an den Tod) Willst Du mich jetzt auch holen, alter Schnitter? Ist es so weit? (Kämpferisch) Hol mich doch! Nimm mich doch mit! Das nützt Dir gar nichts! Die Forschung kannst Du nicht aufhalten! Irgendwann wird Dich der Mensch schon vertreiben, hässliches Knochengestell! Das dauert nicht mehr lange!

ALMA ruft im Off hinter der Bühne. Carl? (Zäsur) Wo bist Du denn? (Zäsur) Carl! Komm wieder rein!

CARL hat die Stimme gehört und spricht zu sich selbst. Ich komme gleich! Ich muss nur noch… (Er blickt wieder in Richtung der Person am Boden, scheint sie aber nicht mehr zu sehen). Wo ist er denn hin? (Er kichert) Hat sich schon verpisst! Feiger Hund!

ALMA ruft im Off hinter der Bühne. Carl, lauf nicht da draußen in der Dunkelheit rum! Komm jetzt ins Bett!

CARL macht eine wegwerfende Geste in die Richtung, aus der Almas Stimme kam, dann verlässt er nach hinten die Spielfläche und die Bühne.

Die Bühnenbeleuchtung verlischt.

Ende Erster Aufzug