Können wir Europäer sein?

In meinem Geburtsjahr 1963 hielt Dr. Martin Luther King Jr. seine berühmte Rede "I have a dream". Und heute frage ich mich, wieso es immer noch ein Traum geblieben ist, dass wir Menschen ausschließlich nach dem Wesen ihres Charakters beurteilen statt nach ihrer Hautfarbe, ihrer Abstammung, ihrer Rasse, ihrem Glauben oder ihrer sexuellen Orientierung. Müsste der Traum von Martin Luther King nicht längst Realität geworden sein – 56 Jahre später?

 

Es gab Jahre, in denen ich das Gefühl hatte, dass wir auf einem guten Weg sind. Aber ausgerechnet im Jahr der Europawahl habe ich den Eindruck, dass wir uns von der Erfüllung dieses Traums wieder ein beträchtliches Stück entfernt haben.

Meines Erachtens ist die Europäische Union gefährdet, weil sich viele Menschen in Europa wieder auf ihre nationalen Identitäten zurückziehen und gegen fremde Einflüsse abschotten wollen. Kulturelle und menschliche Eigenheiten, die dem eigenen Selbstverständnis entgegen zu stehen scheinen, werden als Bedrohung wahrgenommen, abgelehnt und teilweise sogar offen bekämpft.

Eigene Maßstäbe werden absolut gesetzt. Vielen fällt es schwer, sich auf andere Denk- und Gefühlswelten einzulassen. Schubladen haben wieder Hochkonjunktur. Das alles steht dem Bewusstsein, neben der regionalen und nationalen auch eine europäische Identität und Verantwortung zu besitzen, entgegen. Für die Europawahl lässt diese Tendenz nichts Gutes erwarten.

 

Die Probleme bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme Richtung Europa haben gezeigt, wie fragil die europäische Sozialisation immer noch ist. Europa ist dann gefragt, wenn es konkrete Vorteile bietet. Die Verteilung von Pflichten führt dagegen zu nationalen und persönlichen Abgrenzungen. 

Mit immer detailreicheren Gesetzen und Verordnungen lässt sich der Mangel an der Identifikation mit Europa allerdings nicht ausgleichen. Auch die Hoffnung, die menschliche und soziale Entwicklung würde mit der technischen irgendwie Schritt halten können, erweist sich als Trugschluss. Mittlerweile ist aus dem technischen und medizinischen Fortschritt ein Fortrennen geworden. Leider können nur die wenigsten von uns ein derart hohes Veränderungstempo aufnehmen, und die Politik erweist sich mehr und mehr als überforderter "Pacemaker".

 

"Weniger ist mehr" heißt es so schnörkellos. Weniger Regulierung könnte mehr Kreativität und Eigeninitiative bedeuten. Jede verbindliche Regel steht für die Befürchtung, dass Dinge nicht so laufen, wie die kleine Gruppe der Regel Setzenden es möchte. Gemeinsame Werte und Handlungsweisen entfalten ihre Wirksamkeit aber erst dann, wenn sie zu einem allgemeinen Selbstverständnis geworden sind. Jede Regel engt Freiräume ein. Freiräume benötigen wir aber, um uns entfalten und wertvolle Beiträge für die Gesellschaft leisten zu können. Es ist daher die hohe Kunst jeder Organisation, soviel Freiräume zu gewähren wie möglich, und nur soviel Grenzen zu setzen wie nötig, um ein friedliches, soziales, sicheres und verantwortliches Miteinander zu ermöglichen.

 

Ich denke, dass wir wieder mehr Mut dazu entwickeln müssen, Bereiche unseres Lebens ungeregelt zu lassen, und darauf zu vertrauen, dass Menschen auch ohne staatliche Vorgaben eine hochwertige Kultur des Miteinanders entwickeln können. Für Europa müssen wir uns darauf besinnen, welche Grundwerte uns über die nationalen Grenzen hinweg verbinden, und uns dann darauf konzentrieren, diese Grundwerte gemeinsam zu leben und zu stärken.

 

Europa ist genauso überreguliert wie jeder einzelne Mitgliedsstaat für sich genommen. Kreativität, Eigeninitiative und die Lust, Neues nicht nur zu denken sondern auch auszuprobieren, bleiben dabei allzu oft auf der Strecke. Eigenschaften, ohne die sich eine gemeinsame europäische Identität aber nur sehr schwer entwickeln lässt. Von der Politik erwarte ich daher Anstrengungen, die darauf ausgerichtet sind, genau diese Eigenschaften wieder hervorzubringen und zu festigen, anstatt die nächsten Einschränkungen in Gesetze zu gießen. Vielleicht entpuppt sich dieser Weg dann auch als geeignetes Mittel dazu, Barrieren in den Köpfen aufzuheben, und dem Traumzustand von Martin Luther King wieder ein Stück näher zu kommen.

 

Lasst uns freie, kreative Europäer sein, die ihre Verschiedenartigkeit als Reichtum begreifen, und sich gegenseitig ausreichend Raum für individuelle Entfaltung lassen und von Herzen gönnen.