Salutogenese? Gesundheit!

Momentan reden wir viel darüber, was uns krank macht, und darüber, wie wir wirksam verhindern können, dass ein Virus zu viele von uns gleichzeitig so ernsthaft erkranken lässt, dass die Anzahl der sog. Intensivbetten in unseren Krankenhäusern nicht ausreicht, um alle Schwerkranken angemessen zu versorgen. Vor einigen Wochen wurden uns Grafiken gezeigt, die uns den exponentiellen Anstieg erklärt haben: wenn eine infizierte Person drei weitere ansteckt, und diese drei Personen in kurzer Zeit jeweils wieder drei weitere Personen usw., dann führt das zu einer nicht mehr beherrschbaren Ausbreitung des Virus. Diese nachvollziehbare Darstellung hat dazu geführt, dass die meisten Menschen in Deutschland den sog. "shut down" akzeptiert haben. Die verordneten Maßnahmen, die ein freiheitliches und selbstbestimmtes Leben radikal eingeschränkt haben, wurden von uns verstanden  und diszipliniert umgesetzt. Kennzahlen wie die Verdoppelungszeit und die Reproduktionsrate sind für viele mittlerweile zu selbstverständlichen Indikatoren für die Angemessenheit und auch die Rechtmäßigkeit der einschränkenden Maßnahmen geworden.

Und genau darin liegt das aktuelle Problem: der positiven Entwicklung dieser Kennzahlen können die verantwortlichen Politiker nur die Vermutung entgegenhalten, dass sich die allgemeine Gesundheitslage bei weitreichenderen Lockerungen der verordneten Schutzmaßnahmen wieder verschlechtert. Annahmen und dunkle Ahnungen stehen ab jetzt den als nahezu objektiv anerkannten Kennzahlenwerten gegenüber und werden als Widerspruch wahrgenommen. 

Unser Verständnis für die politischen Entscheidungen bröckelt. Gleichzeit schwindet in uns das Gefühl, unser Leben in absehbarer Zeit wieder eigenverantwortlich gestalten zu können. Beides zusammen kann uns an der Sinnhaftigkeit zweifeln lassen und im schlimmsten Fall kann es dazu führen, dass die eine oder der andere von uns den Glauben an den Sinn des Lebens verliert.

Wenn wir von Gesundheit sprechen, dann dürfen wir nicht nur das Virus im Blick haben, sondern müssen uns fragen, was unsere Gesundheit neben wirksamen Impfstoffen und Medikamenten positiv beeinflusst. Dazu hat der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky in den 1980er Jahren den Ausdruck "Salutogenese" als Gegenbegriff zu Pathogenese geprägt.

Ein zentraler Aspekt in der Salutogenese nach Antonovsky ist das sog. "Kohärenzgefühl", das von dem Dreiklang aus der Verstehbarkeit von Zusammenhängen, der Überzeugung, eigenständig Probleme lösen zu können, und dem Glauben an den Sinn des Lebens geprägt wird. Dieses Kohärenzgefühl droht immer mehr Menschen verloren zu gehen, je länger der gegenwärtige Krisenzustand andauert. Daher sind die Appelle, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden und darüber hinaus keine widersinnigen Verordnungen wie z. B. die allgemeine Schutzmaskenpflicht zu verhängen, richtig und wichtig. Die Immunität gegen das Virus ist nicht der einzige Gradmesser für unsere Gesundheit. Wir müssen die Zusammenhänge und die verordneten Schutzmaßnahmen verstehen, wir müssen das Heft des Handelns schnellst möglich wieder in die eigenen Hände nehmen können, um nicht Gefahr zu laufen, an der Sinnhaftigkeit unseres Lebens zu zweifeln.

Die Verantwortung für die, die Entscheidungsbefugnis haben, ist groß. Diese Verantwortung geht weit über die Bekämpfung einer Pandemie hinaus. Das Bewusstsein dafür, welche Bedeutung das Kohärenzgefühl für unsere Gesundheit hat, kann dabei helfen, die weiteren Entscheidungen zur Bewältigung der Krise mit Augenmaß zu treffen. Eine Krise, die wir nur gemeinsam bewältigen können, indem wir verstehen, selbständig handeln und den Glauben an den Sinn des Lebens nicht verlieren.