Gemeinwohl ohne Interessenausgleich geht nicht

Menschen, denen auf Zeit Regierungsverantwortung übertragen wird, sind nach meinem Verständnis für das Gemeinwohl verantwortlich. Gemeinwohl bedeutet, dass die Interessen der Bürgerinnen und Bürger sowie die Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen angemessen berücksichtigt und fair ausgeglichen werden. Das ist die Basis für ein friedliches Miteinander in einem Gemeinwesen.

Mein Eindruck ist, dass viele der aktuell in Regierungsverantwortung stehenden Politiker diese Basis verlassen haben. Anstatt die mannigfaltigen Interessen in unserem Land grundsätzlich als gleichwertig zu betrachten, zu bewerten und einen angemessenen Interessenausgleich anzustreben, wird auch von staatlicher Seite immer stärker polarisiert. Im Verlauf der Coronapandemie wurde sichtbar, wie schnell eine Gesellschaft ihren Gemeinsinn einbüßen und gegen ein unversöhnliches Lagerdenken eintauschen kann. Die persönliche Meinung wird von vielen über alles andere gestellt. Unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, um eine Angelegenheit aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und dadurch eine bestmögliche Objektivität zu erreichen, scheint vielen heute noch schwerer zu fallen als früher. Die andere Meinung wird nicht akzeptiert. Egozentrik bestimmt in vielen Fällen Wahrnehmung und Empfindung.

Diese Egozentrik schreibe ich auch etlichen Regierungsmitgliedern zu. Die eigene, stark ideologisch geprägte Vorstellung von einer Idealgesellschaft bestimmt meines Erachtens deren inneren politischen Kompass und verstellt den Blick auf die Notwendigkeiten der Gegenwart und das realistisch Machbare.

Wie kann es sein, dass in einer Zeit, in der es in der Gesellschaft „brodelt“, weil sich viele Menschen von einer intransparenten und offenbar planlosen Asyl- und Einwanderungspraxis überfordert sehen, Gesetze durch das Parlament „geboxt“ werden, die die doppelte Staatsbürgerschaft und ein verkürztes Einbürgerungsverfahren ermöglichen? Hier wird ohne Not, Öl in das gesellschaftliche Feuer gegossen und ein wirksamer Interessenausgleich willentlich vernachlässigt. Wen es nicht interessiert, möglichst viele Menschen von seinen Ideen zu überzeugen, und wer Betroffene nicht zu Beteiligten machen möchte, der hat in einer verantwortungsvollen Funktion meines Erachtens nichts zu suchen.

Leider erwecken etliche Gesetzesvorhaben der sog. „Ampel“ den Anschein, als wolle die Regierung in der ihr verbliebenen Legislaturperiode möglichst viele der eigenen Visionen in Gesetze gießen – ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl und koste es, was es wolle!

An diesem Wochenende sind viele tausend Mensch gegen „Rechtsextremismus“ auf die Straßen gegangen, angestachelt durch die Berichterstattung zu einem angeblichen Geheimtreffen von Rechtsradikalen und Politikern der AfD. Die Menschen scheinen über die Inhalte dieses „Geheimtreffens“ bestens informiert zu sein. Die Gefährdung für die „Demokratie“ scheint sich derart akut abzuzeichnen, dass Politiker aller Bundestagsparteien außer der AfD vor dieser Bedrohung warnen. 

Mir stellt sich die Frage, wie aufrichtig diese Sorge in Wirklichkeit ist. Fürchten die Politiker der sog. „etablierten“ Parteien tatsächlich die Beschädigung der Demokratie oder lediglich eine Erosion der eigenen Wahlergebnisse? Das probate Mittel gegen unangenehme Wahlergebnisse ist meines Erachtens nicht das Verbot eine Partei und die damit verbundene Stigmatisierung der Wähler, sondern eine Politik, die auf das Gemeinwohl abzielt. Wer den Begriff „Demokratie“ als Herrschaft der Guten und Wissenden über die bösen Unwissenden missdeutet und daraus seine Legitimation für politisches Handeln ableitet, der stellt selbst ein Risiko für den Erhalt unserer Demokratie dar.