Nur ein Traum?

Am 28. August 1963 hält Dr. Martin Luther King Jr. am Lincoln Memorial in Washington vor rund 250.000 Menschen seine berühmte Rede "I have a dream".


„I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character.“


Das ist einer von den vielen bewegenden Sätzen aus der Ansprache von Martin Luther King. Er hat den Traum, dass seine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilen wird, sondern nach dem Wesen ihres Charakters.


Was für ein Traum, in einem Land zu leben, in dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. In dem Männer und Frauen gleichberechtigt sind. In dem niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf, und auch niemand wegen seiner Behinderung oder seiner sexuellen Orientierung Nachteile erdulden muss. Ein Land, in dem jeder und jede das Recht hat, die eigene Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Ein Land, in dem die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film gewährleistet ist, und eine Zensur nicht statt findet. Ein Land, in dem die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich sind und die ungestörte Religionsausübung gewährleistet wird. Ein Land, in dem niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf und die Würde des Menschen unantastbar ist!


Unser Grundgesetz bildet die rechtliche Grundlage dafür, dass sich der Traum von Martin Luther King zumindest in unserem Land erfüllen kann. Mit Leben erfüllen muss jeder einzelne von uns diesen Traum selbst. Momentan habe ich allerdings das Gefühl, dass wir der Erfüllung dieses Traums von Gleichheit, Gleichberechtigung und Freiheit wieder ein Stück weiter entrückt sind. Die Angst davor, Liebgewonnenes zu verlieren und dafür nicht etwas Besseres oder zumindest Gleichwertiges zurückzubekommen, macht viele Menschen in Deutschland, Europa und der Welt empfänglich für falsche Sicherheitsversprechen. Neid und Missgunst mischen sich in diese Angst und bilden den Nährboden für Aggressionen, für Diskriminierungen und Gewalt. Auch bei uns.
Parteien und Politiker, denen die offene, liberale Gesellschaft nicht gefällt, versuchen, diese Verunsicherung und teilweise Verwirrung vieler Menschen für sich und ihre politischen Ziele zu nutzen. Sollten sie Erfolg damit haben, dann würden wir uns alle noch weiter von der Erfüllung des großen Traums entfernen, dessen bin ich mir sicher.


Wenn die sog. "Alternative für Deutschland" in ihrem Grundsatzprogramm eine "deutsche Leitkultur" fordert, weil sie die "Ideologie des Multikulturalismus" als "ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit" betrachtet, dann spricht sie sich dagegen aus, Menschen allein nach dem Wesen ihres Charakters zu beurteilen, und sie diffamiert Menschen, die aufgrund ihrer Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft nicht "deutsch" sind. Die AfD ist gegen die "Vereinigten Staaten von Europa" und gegen den Euro. Sie strebt "einen Austritt Deutschlands" aus der EU "oder eine demokratische Auflösung der Europäischen Union" an, sollten sich die "grundlegenden Reformansätze im bestehenden System der EU nicht verwirklichen lassen". Sie behauptet auch, dass nur die "nationalen Demokratien" in der Lage sind, "ihren Bürgern die nötigen und gewünschten Identifikations- und Schutzräume zu bieten"  und damit "das Fundament einer friedlichen Weltordnung" zu bilden. Den Islam und das sog. "Gender-Mainstreaming" baut die AfD in ihrem Programm als Feindbilder auf, die es durch Verbote und einengende Gesetze zu bekämpfen gilt. Sie befindet sich damit in "illustrer Gesellschaft". Trump, Le Pen, Kaczyński, Hofer - Namen, die ebenfalls für eine Ideologie der nationalen Abschottung und der Ablehnung liberaler Lebensweisen stehen.


Menschen, die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse für wertvoller halten als andere Menschen, sind für mich Rassisten. Rassisten dürfen keine politische Verantwortung haben.


„I have a dream that one day (...) little black boys and black girls will be able to join hands with little white boys and white girls as sisters and brothers. (...) And if America is to be a great nation this must become true. (...)"


Kann das vereinte Europa eine "große Nation" in diesem Sinn sein? Können wir als Europäer den Traum verwirklichen, Menschen allein nach dem "Wesen ihres Charakters" zu beurteilen? Dr. Martin Luther King Jr. musste für diesen Traum sterben. Wollen wir als Europäer diesen Traum zusammen leben?


Ich bin dafür!