#lichterkettemoorum

Dritter Akt


Auf dem Groß-Monitor über der Bühne wird ein dritter Video-Blog von „Nerius On Crime“ ausgestrahlt.

 

LIve-VLog NOC

 

KIM NERIUS steht in der Innenstadt von Moorum in Sichtweite der GASTSTUBE URWURST. Der Eingang zur Gaststube ist von der Polizei abgesperrt worden. Blaulicht, Beamte in Uniform, Spurensicherung.

 

KIM. Moin, ihr Netzhocker. Hier ist „NOC – Nerius On Crime“ Ich bin schon wieder in Moorum. Hinter mir seht ihr das URWURST, die angeblich „braune“ Kneipe in Moorum, in der sich regelmäßig jugendliche Neo-Nazis treffen. Ausgerechnet hier ist heute Abend ein Verbrechen abgelaufen wie in einem Mafia-Film. Vor den Augen seiner Freunde ist Bernd H. erschossen worden, 21 Jahre alt und Stammgast im URWURST. Das war ´ne Hinrichtung, wenn ihr mich fragt. Eiskalt. Von einem Killer ausgeführt. Moorum kommt einfach nicht zur Ruhe. Hier herrscht Ausnahmezustand. Die Atmosphäre ist total krass. Dabei sollte ja eigentlich morgen die Lichter-kette stattfinden. Eine Veranstaltung, mit der die Leute ein deutliches Zeichen gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit setzen wollten. Neben mir steht Heidi Greven. Frau Greven ist Lehrerin am Sophie-Scholl-Gymnasium und Mitveranstalterin der Lichterkette. Können Sie die Lichterkette jetzt vergessen, Frau Greven?

GREVEN. Ich weiß nicht. Das ist noch viel zu früh. Ich bin total geschockt. Ich bin fassungslos! Ich weiß noch gar nicht, was wir jetzt machen sollen. Die Menschen waren in den letzten Wochen total engagiert. So viele haben dafür gearbeitet, dass unsere Lichterkette ein Erfolg wird, dass wir ein starkes Zeichen gegen diesen abscheulichen Fremdenhass setzen. Unser Moorum ist nicht braun, unser Moorum ist bunt und tolerant. Und jetzt diese Tat, dieser Mord! Ich bin einfach nur fassungslos!

KIM. Glauben Sie, dass dieser Mord mit der geplanten Lichterkette in Verbindung steht?

GREVEN. Das wäre ja abscheulich, das möchte ich gar nicht denken.

KIM. Das Opfer, der 21-jährige Bernd H., wird der rechten Szene zugerechnet.

GREVEN. Dazu kann ich nichts sagen. Wir haben hier bestimmt ein paar rechte Chaoten in der Stadt, aber eine rechte Szene, das glaube ich nicht. Moorum ist nicht braun. Moorum ist eine tolle Stadt. Das zeigt ja auch der Zuspruch zu unserer Lichterkette morgen.

KIM. Die sie veranstalten, weil es in Moorum einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim gab.

GREVEN. Ja, aber das heißt doch nicht, dass Moorum eine Neonazihochburg ist, wie es jetzt überall heißt. Das ist doch nicht in Ordnung, dass wir derart in Verruf geraten. Die Medien berichten seit Wochen nur noch von dem „braunen Sumpf“. Das empört mich, das macht mich völlig fertig!

KIM. Aber der Brandanschlag war nicht die erste rechtsradikale Tat in Moorum!

GREVEN. Rechte Spinner gibt es überall, das ist doch kein Privileg von Moorum.

KIM. Ein Schüler von Ihnen, Djamal, wurde nach einem Interview mit mir zusammengeschlagen, er liegt mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. In diesem Interview hat er den Verdacht geäußert, dass die Brandanschläge auf ihre Schule und das Flüchtlingsheim auf das Konto von jugendlichen Neo-Nazis aus dem URWURST gehen.

GREVEN. Die Sache mit Djamal ist widerlich. Ich hoffe, dass der Junge ganz schnell gesund wird. Aber ich sage es noch einmal, in Moorum gibt es keine rechte Szene. Ganz sicher nicht.

KIM. Das URWURST gilt als Treffpunkt der rechten Szene. Könnte der Mord an Bernd H., der als Anführer der jugendlichen Neo-Nazis gilt, nicht eine Vergeltungstat sein? Gewalt gegen Gewalt? Für mich klingt das logisch?

GREVEN. Für Sie vielleicht, aber ich glaube das nicht! Machen Sie hier bitte keine Stimmung gegen uns. Ich möchte das Gespräch jetzt beenden.

KIM. Nur eine Frage noch, Frau Greven: wird es die Lichterkette morgen geben?

GREVEN. Das weiß ich nicht. Das hoffe ich. Das kann ich jetzt nicht sagen. Das müssen andere entscheiden. Ich will jetzt gehen!

 

Heidi Greven geht aus dem Bild. Kim setzt ihren Live-Stream ungerührt fort.

 

KIM. Die Nerven liegen blank in Moorum. Das ist deutlich zu spüren. Und das ist auch Heidi Greven anzumerken. Mit der Lichterkette will Moorum raus aus den Negativ-Schlagzeilen der letzten Wochen. Aber das kann man jetzt wohl erst einmal verges-sen. Die Bluttat im URWURST schockt die Menschen. Ein Mann ist auf der Flucht, ein Killer. Elegant gekleidet, haben Zeugen gesagt, Ende Vierzig, Anfang Fünfzig, kurzes, graues Haar, circa eins-fünfundachtzig groß. Er ist bewaffnet und gefährlich. Sobald ich Neues habe, melde ich mich wieder. Ihr seid bei „Nerius On Crime“. Bleibt wachsam. Ciao!

 

Ende Live-VLog. Das Bühnenbild wird sichtbar.

 

Die Wohnung von Bettina und Kim in Sieventhal. BETTINA hockt vor ihrem Laptop. Sie raucht und trinkt Wein. Nebenbei verfolgt sie einen weiteren Video-Blog von „Nerius On Crime“. Für die Zuschauer ist dieser Live-Stream nur zu hören, nicht auf dem Groß-Monitor zu sehen.

 

KIM sendet direkt aus dem fahrenden Auto. Moin ihr Netzhocker! Hier ist zum letzten Mal in dieser Nacht „NOC – Nerius On Crime“. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Das war ein krasser Tag. Die Bluttat im URWURST hat Moorum in einen Schockzustand versetzt, aber die Polizei schaltet auf stur. Nachrichtensperre heißt das offiziell. Es gibt noch keine heiße Spur. Leute sagen zwar, der Killer kommt aus Moorum. Aber das ist nicht bestätigt worden. Mir wurde auch gesagt, dass der erschossene Bernd H. in der Drogenszene aktiv gewesen sein soll. Vielleicht ergibt sich daraus ja ein Tatmotiv. Klar ist allerdings, dass Bernd H. zu einer Gruppe jugendlicher Neo-Nazis gehört, die sich regelmäßig im URWURST trifft. Diese Gruppe soll auch für den Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim im letzten Monat verantwortlich sein. Vielleicht ist der Mord ja eine Vergeltungstag. Die Erwartungen auf einen schnellen Fahndungserfolg sind allerdings erst einmal beerdigt worden. Eine Festnahme kann ich euch heute Nacht nicht mehr bieten. Darum gebe ich euch noch mal die Täterbeschreibung durch: der Mann ist Ende vierzig, Anfang fünfzig. Er ist elegant gekleidet, hat kurzes, graues Haar und ist circa eins-fünfundachtzig groß. Macht aber keinen Scheiß, wenn ihr ihn seht! Der Mann ist ein Killer: schwer bewaffnet und gefährlich. Sobald ich Neues habe, melde ich mich wieder. Ihr seid bei „Nerius On Crime“. Bleibt wachsam. Ciao!

 

Das Folgende spielt sich parallel zu Kims viertem Video-Blog ab. Es klingelt an der Wohnungstür. Bettina öffnet.

 

ALEXANDER im Off. Hallo, Betty. Sorry, dass ich Dich so spät noch störe!

BETTINA verwundert aber erfreut. Hey Alex, komm rein! Lass Dich drücken! Ich hätte nicht gedacht, Dich so schnell wiederzusehen!

 

ALEXANDER JESSEN betritt die Wohnung. Bettina nimmt ihn kurz in den Arm. Im Gegensatz zum zweiten Akt wirkt er extrem ruhig, aber nicht gelassen, eher unter Schock stehend. Von Bettina geht dagegen eine innere Spannung aus. Bettina schließt hinter Alexander die Tür. Alexander kommt weiter in den Raum, bleibt stehen und blickt auf den Laptop.

 

BETTINA bleibt neben ihm stehen. Das ist Kim, meine Lebenspartnerin. Sie war in Moorum und fährt jetzt heim. Sie sendet wo sie steht und fährt. Kanntest Du den jungen Mann, der erschossen wurde?

ALEXANDER. Weiß man denn schon, wer es ist?

 

Bettina klappt ihr Laptop zu.

 

BETTINA. Ist auch egal! Setz Dich! Magst Du was trinken? Wein, Bier, Wodka?

ALEXANDER. Einfach nur Wasser, bitte.

BETTINA. Wasser – habe ich, glaube ich, auch.

 

Bettina geht in die Küche. Alexander schaut sich um.

 

BETTINA kommt mit einem Glas Wasser zurück und hält es ihm entgegen. Dein Wasser. (bemüht locker:) Ich bleibe allerdings bei Wein, wenn Du nichts dagegen hast.

 

Alexander nimmt das Glas und stellt es auf den Tisch. Es entsteht eine Pause.

 

BETTINA mustert ihn. Wie geht es Deinem Sohn?

ALEXANDER zuckt mit den Schultern. Walid lebt. Wenn man das noch Leben nennen kann.

BETTINA. Du verlierst doch nicht die Hoffnung, Alex! Das darfst Du nicht!

ALEXANDER. Ich weiß nicht, Betty. Ich weiß wirklich nicht. Seine Ärztin hat keine Hoffnung mehr. Sie will die Geräte abschalten. Ich soll meine Einwilligung zur Organentnahme geben.

BETTINA eindringlich. Das tust Du nicht! Dein Sohn wird leben, Alex! Denk an Kim und ihren Bruder!

ALEXANDER. Ich bin heute Morgen mit einem wirklich guten Gefühl aufgewacht, Betty. Gut ist vielleicht übertrieben. Ich sag mal, so gut, wie es geht zurzeit. Ich hatte einen angenehmen Traum. Ich weiß nicht, was ich geträumt habe, aber es fühlte sich gut an. Dann habe ich sogar Pläne für Walid gemacht. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass er eine Zukunft hat. Und mit diesem tollen Gefühl bin ich dann ins Krankenhaus gegangen. Zuversichtlich. Bis ich das Gesicht der Ärztin sah.

BETTINA. Dein Gefühl ist richtig, Alex! Die Ärztin kann nicht fühlen, was Du fühlst! Du bist mit Walid verbunden! Du weißt, dass er leben wird!

ALEXANDER. Ich habe nicht die afrikanische Seele, die Walid mit seiner Mutter verbindet. Ich bin bloß ein Deutscher, das hat er selbst gesagt.

BETTINA. Du bist in erster Line sein Vater, Alex! Zweifel nicht an Deinem Vater-Gefühl!

 

Alexander nimmt das Wasserglas und trinkt es in einem Zug aus. Dann stellt er es auf den Tisch zurück.

 

ALEXANDER wechselt abrupt das Thema. Musste Deine Freundin Überstunden machen?

BETTINA. Überstunden?

ALEXANDER. Wegen der Sache in Moorum.

BETTINA. Ach so. Das kommt vor. Ich warte in letzter Zeit oft auf sie.

ALEXANDER. Das tut mir leid.

BETTINA. Du kannst ja nichts … (stockt) Noch Wasser?

ALEXANDER. Nein, danke!

 

Es entsteht eine kurze Pause.

 

BETTINA forschend. Hast Du etwas von dem Mord in Moorum mitbekommen?

ALEXANDER überlegt kurz. Du denkst, dass ich geschossen habe, stimmt’s?

BETTINA hastig. Nein! Wie kommst Du darauf? (blickt ihn prüfend an) Wärst Du dazu fähig? Einen Menschen zu erschießen?

ALEXANDER. Ich glaube, dass man jeden über seine Hemmschwelle bringen kann. Ja, ich bin ziemlich sicher. Wäre interessant zu wissen, wo die eigene Hemmschwelle liegt. Was wohl passieren muss, um sie zu überschreiten. Was müsste uns passieren, damit wir das Tabu des Tötens brechen? Ist doch eine interessante Frage, oder nicht?

BETTINA. Weißt Du, was Dir passieren müsste?

ALEXANDER. Hoffnungslosigkeit?

 

Schweigen. Bettina überlegt, wie sie mit der Situation umgehen soll. Sie schenkt sich Wein nach und nimmt nachdenklich einen Schluck. Dann wendet sie sich wieder Alexander zu.

 

BETTINA. Alex, ich bin zu müde zum Rätselraten. Ich bin auch keine gute Psychologin. Ich weiß nicht, wie ich mich richtig oder falsch verhalten soll. Du bist durch das, was Deinem Sohn passiert ist, in einem Zustand, den ich nicht berechnen kann. Ich bin total verunsichert. Durch unser Gespräch gestern und durch das, was heute in Moorum passiert ist. Ich mache Dir nichts vor, ich frage mich tatsächlich, ob es möglich ist, dass Du den jungen Mann erschossen hast. Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, aber ich kann es auch nicht völlig ausschließen. Wenn Du mit mir reden willst, dann klär mich bitte auf! Wahrscheinlich bin ich hysterisch, Alex. Du hättest das Recht, empört zu sein. Ich mache Dir eine scheiß Unterstellung. Ich schäme mich dafür. Aber ich glaube nicht an solche Zufälle. Mir wird schlecht. Ich sollte nicht mehr so viel trinken.

ALEXANDER unnatürlich ruhig. Nimm mal an, ich hätte geschossen…

BETTINA. Nein, Alex, bitte, mach daraus kein Quiz!

ALEXANDER. OK, wie Du willst: ich habe geschossen!

BETTINA. Jetzt ist mir richtig schlecht.

 

Schweigen. Bettina atmet tief durch. Sie betrachtet ihr Weinglas und schüttet den Inhalt schließlich in einen Blumenkübel.

 

BETTINA ungläubig. Du hast einen Menschen erschossen, einen jungen Mann – einfach so?

ALEXANDER. Einen Mörder, Betty! Es spielt keine Rolle, wie alt er war, er ist ein Mörder.

BETTINA. Dein Sohn lebt!

ALEXANDER. Man wollte ihn töten.

BETTINA. Auge um Auge?

ALEXANDER. Ein altes Prinzip.

BETTINA. Fang jetzt nicht mit der Bibel an. Alex! Du hast mir gerade gesagt, dass Du einen Menschen erschossen hast.

ALEXANDER. Und Du glaubst mir nicht, oder? Ich hätte auch sagen können, ich habe nicht geschossen. Das würdest Du mir doch genauso wenig glauben.

BETTINA seufzt. Es wird doch ein Quiz! (Zäsur) Ich will das nicht. Ich will ins Bett. Ich will morgen aufwachen und mir sagen, dass ich diesen Irrsinn nur geträumt habe. Moorum, den Mord, Dein Geständnis – alles!

ALEXANDER. Fang am besten gleich damit an! Rede Dir doch ein, dass Du nur träumst. Im Traum ist alles möglich.

BETTINA. Du machst mich verrückt, Alex. Worauf willst Du hinaus?

ALEXANDER. Ich will mit Dir reden, Betty, nichts weiter. Lass uns über die letzten fünf bis zehn Stunden miteinander reden.

BETTINA. Warum? Weil Du in diesen Stunden zum Mörder geworden bist, und Dich jetzt vor mir rechtfertigen willst?

ALEXANDER. Weil ich in diesen zehn Stunden den Gedanken entwickelt habe, einen Menschen zu töten. Ob ich tatsächlich getötet habe, spielt doch keine Rolle.

BETTINA. Das spielt für mich die größte Rolle.

ALEXANDER. Weil Dir Ergebnisse wichtiger sind als Entwicklungen. Das passt auch zu Deinem Beruf. Als Fotografin schaffst Du Fakten. Du machst einen Augenblick zur Ewigkeit indem Du ihn fotografierst. Der Betrachter kann anschließend nur noch darüber spekulieren, wie es weitergeht.

BETTINA will das Gespräch am liebsten beenden. Kim wird bald hier sein.

ALEXANDER. Ihre Meinung interessiert mich. Wirklich! Hat Kim nicht ein besonderes Verhältnis zu Gewalt und Verbrechen?

BETTINA. Ich mag dieses Spiel nicht, Alex.

ALEXANDER. Es ist ein Traum, Betty. Nichts weiter.

BETTINA. Du hast Dich verändert seit ich bei Dir war. Gestern warst Du betroffen, unendlich traurig und verstört. Auch zornig. Alles Gefühlsregungen, die ich sofort verstehen konnte. Aber heute… Du machst mir Angst, Alex!

ALEXANDER. Die Ungewissheit, ob Du mit einem Mörder befreundet bist, macht Dir Angst.

BETTINA. Ja.

ALEXANDER. Du wirst Dir bald sicher sein, dass ich kein Mörder bin.

BETTINA. Bin ich mir dann auch sicher, dass Du niemanden getötet hast? … Fuck, was rede ich? Wer tötet, ist ein Mörder.

ALEXANDER. Wirklich? Ist das so? Immer?

BETTINA. Du willst mich dazu bringen, dass ich es für richtig halte. Du willst, dass ich sage: ok, Alex hat getötet, aber er ist kein Mörder. Das schaffst Du nicht.

ALEXANDER. Kannst Du Dir keine Situation vorstellen, in der man tötet, ohne ein Mörder zu sein?

BETTINA. Notwehr. Sonst nichts.

ALEXANDER. Es gibt sogar Mörder, die noch nie getötet haben, denke ich.

BETTINA. Das ist Schwachsinn, Alex!

ALEXANDER überlegt kurz. Der Scheißkerl hat mit seinen Freunden im URWURST gesessen. Sie haben Sprüche über Ausländer und Schwuchteln gemacht. Er hat am lautesten gelacht. Diese widerliche Schweine-Fresse!

BETTINA. Warum musst Du das ausgerechnet mir erzählen?

ALEXANDER. Sorry, ich wollte Dich da nicht mit reinziehen. Ich wollte auch nicht schießen, ich wollte ihn nur zur Rede stellen. Aber dann habe ich an meinen Sohn gedacht, daran, dass Walid vielleicht nie mehr der sein wird, der er mal war. Und dann fiel der Schuss.

BETTINA. So was gibt es nur im Film, glaubt man, und jetzt sitze ich mittendrin. Ich darf nicht darüber nachdenken, was Du getan hast, Alex. Ich verabscheue Gewalt. Sie ist primitiv, abstoßend. Als wir uns beim Klassentreffen wiedergesehen haben, habe ich mich riesig gefreut. Und jetzt kommst Du zu mir, mitten in der Nacht und … 

ALEXANDER. … und kratze an Deinem Kokon.

BETTINA. Ja. Du zwingst mich dazu, mich mit Dingen zu befassen, mit denen ich mich nicht befassen will. Warum bin ich bloß zum Klassentreffen gegangen. Ich wollte gar nicht hingehen. Über zehn Jahre hatten wir uns nicht gesehen, und jetzt bringst Du mein ganzes Leben durcheinander.

ALEXANDER. Hast Du auch den Eindruck, dass immer weniger Menschen Realität ertragen können, Betty?

BETTINA. Was soll die Frage?

ALEXANDER. Umweltkatastrophen, Flugzeugabstürze, Kriege, Vergewaltigung. Mord. Das alles bekommen wir täglich in Hochglanz vorgeführt. Aber wir lassen es nicht mehr an uns heran. Wir schauen gebannt auf die perfekt gemachten Bilder von zerstörten Häusern, heulenden Gesichtern, zerfetzten Leibern und nebenbei fressen wir Chips und saufen Bier. Realität findet außerhalb unserer Wahrnehmung statt.

BETTINA. Realität findet statt, egal, ob Du sie wahrnimmst oder nicht.

ALEXANDER. Sicher. Aber wahrhaben will sie keiner. Ich hasse es, dass sich immer mehr Menschen ihrer Verantwortung entziehen. Ich hasse es, wenn sich Menschen in einen Kokon einspinnen und ihre Wahrnehmung abschalten. Überall reden Leute von Verantwortung, aber jeder zuckt zusammen, wenn sie ihn ereilt. Alle rennen bloß rum und rennen weg. Jeder versucht, sein kleines, beschissenes Leben irgendwie über die Runden zu bringen. Ob neben uns jemand verreckt – egal, ist doch nicht unsere Verantwortung.

BETTINA. Welche Verantwortung hast Du gespürt, als Du den Jungen abgeschossen hast?

ALEXANDER. Das war ein ganz eigenartiger Moment. Ich bin im Krankenhaus und die Ärztin kommt mit diesem zombihaften Gesichtsausdruck auf mich zu. Wollen Sie nicht die Organe ihres Sohnes spenden? Sie können Leben retten! Plötzlich wurde die Welt um mich herum immer lauter. Mir war, als würden meine Sinne immer empfindlicher werden. Die Geräusche kamen mir wie tausendfach verstärkt vor. Der Straßenlärm, das Gerede, das Gelächter. Auch Farben, visuelle Reize. Gerüche und Gefühle. Der Wind riss scharfe Furchen in meine Stirn, und aus den Wunden lief mir kaltes Blut in meine Augen. Durch den Blutschleier hindurch habe ich das Zucken der Kerzen im URWURST gesehen und das Blecken falscher Zähne. Und da war so ein Gestank! Es stank nach Lüge, Heuchelei. Es war unerträglich. (Zäsur) Den Schuss habe ich nicht gehört. Ich habe das Projektil gesehen, wie es den Lauf der Waffe verließ und kurz darauf seinen Schädel durchschlug. Von diesem Augenblick an war nur noch Ruhe. Mein Kopf war wieder frei. Die ersten zusammenhängenden Gedanken hatte ich erst wieder auf dem Weg zu Dir nach Sieventhal. Dazwischen liegt nichts.

 

Bettina schenkt sich ein Glas Wein ein und leert es mit einem einzigen Zug.

 

BETTINA. Du findest richtig, was Du getan hast?

ALEXANDER. Welche Alternativen hätte ich gehabt?

BETTINA. Alternativen? Du fragst ernsthaft nach Alternativen für einen Mord?

ALEXANDER. Was glaubst Du, wo wir stehen, Betty? Die Gesellschaft, die Menschheit? Objektiv betrachtet: wo stehen wir? Ich glaube, wenn wir die Augen öffnen würden, würde uns das Grauen packen. Ich habe in den letzten Jahren einen Glauben entwickelt. Nicht an Gott, schon gar nicht in der Weise, wie ihn die Kirchen verbreiten. Eher eine Überzeugung. Die Gewissheit, dass wir unserem Leben gegenüber eine Verpflichtung haben. Ich halte die Möglichkeit, „Ich“ sagen zu können, für ein absolut grandioses Geschenk. Für einen unglaublichen Zufall. Als Kind bin ich nachts manchmal aufgewacht und war völlig außer Atem. Ich habe in mein dunkles Zimmer gestarrt und gedacht „Ich – Ich bin! Ich bin hier. Ich denke. Ich fühle!“. Und im selben Augenblick habe ich mich erschrocken, weil mir klar wurde, dass ich irgendwann einmal nicht mehr da sein werde.

BETTINA. Das hast Du mir schon früher erzählt. Es hat aber nichts mit einem kaltblütigen Mord zu tun.

ALEXANDER. Warte, Betty! Aus dem Wissen, dass Du endlich bist, kannst Du verschiedene Konsequenzen ziehen. Du kannst Dich zum Beispiel auf den Standpunkt stellen: das Leben ist einmalig, das Leben ist kurz, und Du willst möglichst viel für Dich erreichen – Spaß, Wohlstand, Erfüllung. Du achtest darauf, dass Du keinem an-deren absichtlich Schaden zufügst, und gehst ansonsten Deinen Weg. Das Kino liebt solche Charaktere. Frauen und Männer, die ihrer inneren Stimme folgen und sich von nichts und niemandem aus der Bahn bringen lassen. Siegertypen. Typen, die so richtig stolz auf ihre Leistungen sind. Dabei ist Stolz eine völlig absurde Empfindung. Wie kann man stolz auf etwas sein, das einem geschenkt worden ist! Und Schönheit, Gesundheit, Verstand, Kraft, Talent, das alles sind Geschenke. Geschenke, für die man sich erkenntlich zeigen muss. Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien diese Geschenke verteilt werden, vermutlich ist es Zufall. Aber ich glaube, dass die meisten es nicht wert sind, solche Geschenke erhalten zu haben. Sie verschleudern ihr Talent, pfeifen auf ihre Gesundheit oder versaufen ihren Verstand. Wie siehst Du das?

BETTINA. Geschenke! Wo, Alex, wo stehen wir, Deiner Meinung nach? Geht es uns so schlecht, dass der Mord an einem Menschen nicht mehr ins Gewicht fällt? Steht die Menschheit am Abgrund? Willst Du mir das sagen?

ALEXANDER. Du verstehst mich nicht.

BETTINA. Bingo! Ich verstehe Dich nicht, Alex! Ich verstehe nicht, wie man eine Waffe auf einen Menschen richten kann. Ich verstehe nicht, wie man willentlich ein Leben auslöschen kann. Ich verstehe nicht, wie man diesem Menschen dabei in die Augen blicken kann. Augen, die flehen, in denen sich Angst spiegelt. Todesangst.

ALEXANDER. Der Junge hatte höchstens zwei Sekunden Angst, danach war alles vorbei. Was sind zwei Sekunden Todesangst gegen ein Leben voller Lebensangst?

BETTINA. Alex! Es gibt keine Rechtfertigung für Mord.

ALEXANDER. Ich glaube nicht, dass dieser Scheißkerl auch nur einmal nachts aufgewacht ist und sich gesagt hat: „Ich bin“. Erst, wenn man von sich selbst ein Bewusstsein hat, versteht man auch, was es heißt, ein Leben zu zerstören. Ich glaube nicht, dass dieser Kerl ein Selbst-Bewusstsein zu verlieren hatte.

 

Die Wohnungstür wird aufgeschlossen.

 

KIM im Off. Ich bin zurück!

 

KIM NERIUS tritt ein.

 

KIM. Ich bin total kaputt! (sie erblickt Alexander) Wir haben Besuch? Hey, ich bin Kim.

ALEXANDER. Ich bin Alex.

KIM. Haben wir Bier? Ich brauche dringend ein Bier (sie lässt sich in einen Sessel fallen).

BETTINA. Natürlich haben wir Bier. Im Kühlschrank. Den Weg kennst du ja.

KIM. Und ich dachte, hier wird man mal bedient (sie steht auf). Noch jemand Bier?

ALEXANDER. Nein, danke. Ich wollte gerade gehen.

KIM im Hinausgehen. Wegen mir musst Du nicht abhau´n.

BETTINA wartet bis Kim in der Küche ist. Wo willst Du jetzt hin? Willst Du Dich der Polizei stellen?

ALEXANDER. Nein. Wieso?

BETTINA. Warte doch nicht, bis man Dich verhaftet. Stell Dich freiwillig. Ich kenne einen guten Anwalt.

 

Kim kommt mit einer Flasche Bier zurück.

 

KIM. Bist Du Alex aus Moorum, der Schulfreund von Betty?

ALEXANDER. Genau der.

KIM. Tut mir leid, was mit Deinem Sohn passiert ist. Geht’s ihm besser?

ALEXANDER. Nein. Noch nicht.

KIM. Willst Du in Moorum bleiben? Das ist doch krass unter diesen Umständen.

ALEXANDER. Unter diesen Umständen ist es unmöglich.

KIM forschend. Ist sicher ziemlich heavy, bestimmten Menschen jetzt noch über den Weg zu laufen.

BETTINA. Kim!

ALEXANDER. Das macht mir nichts aus, Betty. Erzähl Deiner Freundin ruhig, worüber wir gesprochen haben.

BETTINA. Wo soll das hinführen, Alex?

KIM. Ihr macht mich neugierig.

BETTINA. Es gibt nichts zu erzählen.

ALEXANDER. Wir haben über Verantwortung gesprochen. Und über Mord.

KIM süffisant. Deine Lieblingsthemen, Betty-Mausi.

BETTINA. Hört auf – beide!

KIM. Warum bist Du so genervt?

ALEXANDER. Das liegt an mir. Ich hätte nicht herkommen dürfen.

KIM überlegt kurz. Du musst Betty sehr vertrauen.

BETTINA. Wie meinst Du das?

KIM taxiert ihn. Er ist Anfang Fünfzig ...

ALEXANDER. Dreiundfünfzig, wie Betty.

KIM. …gut gekleidet, geradezu elegant.

BETTINA. Ja, und? Was schließt Du daraus?

KIM gelassen. Er passt zur Täterbeschreibung. Und ein Motiv hat er auch.

BETTINA. Du bist ja verrückt.

KIM wendet sich an Alexander. Betty hat mir erzählt, dass die Nazi-Kids aus dem URWURST Deinen Sohn auch auf der Liste hatten. Sie haben ihn durch die Stadt gejagt, bevor er vor den Bus gelaufen ist.

ALEXANDER. Das stimmt. Und Deine Schlussfolgerung ist logisch. Ich habe ein Motiv.

BETTINA zu Kim. Ist die Sensationsreporterin jetzt zufrieden?

KIM. Ich halte Mord für keine Sensation. Aber ich kann ihn gut verstehen. Wenn jemand meinem Liebsten im Leben etwas antun würde, dann sollte keine Waffe in meiner Nähe sein.

BETTINA. Sein Sohn ist nicht tot, Kim!

KIM. Verstehe ich das richtig? Wenn er tot wäre, dann könntest Du ihn auch versteh´n?

BETTINA. Was soll das werden, Kim? Willst Du ein Spiel daraus machen? Willst Du Alex interviewen? Soll ich Fotos machen?

KIM. Keine schlechte Idee. (zu Alexander:) Was meinst Du dazu?

BETTINA. Das widert mich an.

KIM. Trink noch Wein, Betty-Mausi! (zu Alexander:) Also, wollen wir ein Interview machen, Alex? Sollte die Welt nicht erfahren, was Deinem Sohn passiert ist, und wer die Schuld daran trägt?

BETTINA. Alex, lass Dich nicht darauf ein.

ALEXANDER. Was habe ich zu verlieren, Betty? Ich glaube, ich möchte der Welt tatsächlich etwas sagen.

BETTINA. Dann sag es im Gerichtssaal, Alex, da gehört es hin, und nicht ins Internet.

KIM. Wer hört denn zu im Gerichtssaal? Nur das Internet garantiert Dir die Aufmerksamkeit, die Du jetzt brauchst.

BETTINA. Hör auf, Kim. Das bist nicht Du!

KIM. Du weißt, wer ich bin, ja?

BETTINA. Offenbar nicht.

KIM zu Alexander. Ich werde einen Live-Stream schalten. Ist Dir das recht?

BETTINA. Du meinst das tatsächlich ernst.

KIM. Sicher meine ich es ernst. Du glaubst natürlich, dass ich nur geil auf eine Story bin. Denk doch mal nach: glaubst Du, sein Prozess wird irgendeine Sau interessieren? Ein Verrückter hat geschossen, ein Verrückter wird verurteilt. Und was ist mit seinem Sohn? Von dem spricht keiner mehr. Kein Wort. Aber Walid wurde fertig gemacht. Von Rassisten und Schwulenhassern. Täglich werden in Deutschland Ausländer und Schwule von rechtsradikalen Arschlöchern gemobbt, gedemütigt und verprügelt! Willst Du das verschweigen? Willst Du dafür verantwortlich sein, dass diese Verbrechen einfach so unter den Spießbürgerteppich gekehrt werden?

ALEXANDER. Sie hat recht, Betty.

BETTINA. Sie wickelt Dich ein. Merkst Du das nicht?

KIM. Du bist auf dem Holzweg, Betty-Mausi! Ich will bloß Unrecht verhindern.

BETTINA. Welches Unrecht willst Du verhindern, Kim? Welches?

KIM. Ach, lass uns nicht streiten! Bitte!

BETTINA. Dann gib mir eine Antwort, die mich überzeugt.

KIM. OK, sagen wir, ich möchte die Leute an ihre Verantwortung erinnern.

BETTINA. Das ist billig, Kim.

KIM. Sagen wir, ich möchte mein schlechtes Gewissen beruhigen.

BETTINA. Dein schlechtes Gewissen?

KIM. Ich habe Alex in meinem VLog als Killer bezeichnet. Kaltblütig. Gefährlich. Ein Mann ohne Gewissen. Ohne Gnade. Vielleicht wird ihm dieses Killer-Image bis in den Gerichtssaal verfolgen.

BETTINA. „Das Killer-Image“! Bist Du krank? Er hat einen Menschen getötet. Ist Dir das klar? Und Du redest wie die PR-Beraterin von Graf Dracula.

KIM. Ich verfolge ein Ziel, mein Schatz! Und ich versuche, dabei so professionell wie möglich vorzugehen.

BETTINA. Wie cool Du doch bist.

KIM. Bullshit, Bettina, ich bin nicht cool. Jeder, der unseren Job macht ohne dabei in Tränen auszubrechen, ist in Deinen Augen immer gleich cool! Warum machst Du nicht einen Spaziergang? Dann kann ich in Ruhe meine Arbeit erledigen.

BETTINA. Mach Deine Arbeit, Profi! Vermarkte Dein Produkt. Ist ja egal, ob es der Papstbesuch ist oder ein Mord.

KIM. Falsch, Schwester Tugendhaft, das ist mir nicht egal – der Mord ist mir lieber!

BETTINA. Bingo! Darauf habe ich gewartet. Das ist endlich mal ein ehrliches Wort.

ALEXANDER in ruhigem Ton. Muss das Interview denn live ins Internet?

KIM. Wir können es auch aufzeichnen. Ich könnte es auch „crimeTV“ anbieten.

BETTINA gefährlich ruhig. Du wandelst auf (zeigt mit Daumen und Zeigefinger einen schmalen Abstand) so dünnem Eis, Kim Nerius! So dünn!

KIM ignoriert sie. Ich brauche ein bisschen Licht. Und ein Stativ.

 

Während Kim Vorbereitungen für das Interview trifft, mustern sich Bettina und Alexander aus den Augenwinkeln. Während des folgenden Dialogs richtet Kim in Bettinas sogenannter „Portrait-Ecke“ Scheinwerfer und zwei Stühle aus, baut ein Stativ auf und befestigt darauf eine Digitalkamera.

 

ALEXANDER. Du hältst mich für ein Monster, Betty, stimmt´s?

BETTINA. Schwachsinn! Ich halte Dich für einen Menschen, der aus den richtigen Motiven die falschen Konsequenzen gezogen hat.

ALEXANDER. Das beruhigt mich.

BETTINA. Das sollte Dich nicht beruhigen. Du bist in der Sackgasse, Alex. Was denkst Du, kannst Du noch verändern, wenn Du erst im Knast sitzt? Willst Du mit Deinen Knastkumpanen über Verantwortung diskutieren?

ALEXANDER. Diskutieren? Alle diskutieren. Politiker, Manager, Professoren diskutieren, reden und quatschen! Aber verändert wird gar nichts. Worte verändern nämlich nichts. Du hast recht, es gibt keine Rechtfertigung für Mord. Gibt es vielleicht eine Notwendigkeit dafür? Wahrscheinlich auch nicht. Aber will das wirklich jemand wissen? Vermutlich ist das ganz egal. Ich habe das Gefühl, dass wir alle zusammen in der Falle hocken. Es ist scheißegal, was wir tun. Ob es gut ist oder schlecht, es hat sowieso keine Wirkung. Was wir machen oder nicht machen, hinterlässt überhaupt keinen Eindruck. Es ist gleichgültig! Oder ungültig, oder einfach nur schnuppe. Weil es keine Sau wirklich interessiert, was der andere macht.

KIM. Verschieß Dein Pulver nicht, bevor die Kamera läuft. Kannst Du Dich hier rüber setzen, Alex?

BETTINA. Wenn alles scheiß egal ist, warum hast Du dann geschossen, Alex? Aus Rache für Deinen Sohn? Aus persönlicher, niederer Rache?

KIM. Leute, wartet einen Moment.

ALEXANDER. Was hättest Du getan, Betty? Geredet? Mit wem? Mit Gott?

KIM. Gib mir eine Chance, Alex. Setzt Dich hier rüber.

ALEXANDER. Wie schaffen wir es, dass uns die Leute nicht nur hören, sondern auch verstehen, Betty?

BETTINA. Sicher nicht dadurch, dass wir sie erschießen.

ALEXANDER. Ein Schock kann sehr heilsam sein.

BETTINA. Ich halte nichts von Schocktherapie.

 

Ein Scheinwerfer, den Kim auf die beiden Stühle ausgerichtet hatte, geht mit einem lauten Knall kaputt.

 

KIM. Scheiße! Jetzt ist der Scheinwerfer im Arsch!

BETTINA. Der ist schon lange fällig. Hast Du nicht das Surren gehört?

KIM. Haben wir noch einen anderen?

BETTINA. Nein.

KIM. Großartig! Warum hast Du mich nicht vorgewarnt?

BETTINA. Kim! Bist Du krank? Was ist das hier? Was machen wir hier? Wir streiten über Scheinwerfer? Ist das noch normal?

ALEXANDER. Was ist schon normal?

BETTINA. Du sicher nicht, Alex! Du hast getötet! Du hast einem Menschen das Licht ausgeknipst, einem jungen Mann, der leben wollte, der Träume hatte, der seinen Weg gerade erst begonnen hatte!

KIM. Mach jetzt nicht auf sentimental, Betty-Mausi, das ist ja ekelhaft.

BETTINA. Alte Leute werden sentimental. Liebling!

ALEXANDER. Was stimmt eigentlich nicht zwischen euch?

BETTINA. Die Frage steht Dir nicht zu.

ALEXANDER überlegt kurz. Ich habe eine Theorie entwickelt. Wollt ihr sie hören?

BETTINA. Nein.

KIM. Ja!

 

Kurzes Schweigen.

 

BETTINA. Fang schon an, Alex! Der Abend ist sowieso versaut.

ALEXANDER. Wisst ihr, dass es Experimente mit Ratten gibt? Die Ratten wurden in einem kleinen Raum immer enger zusammengepfercht. Schließlich hat sie die Enge verrückt gemacht, und sie haben sich gegenseitig aufgefressen.

BETTINA. Und die Menschen fressen sich auch gegenseitig auf. Ist das Deine Theorie?

ALEXANDER. Du kennst mich gut. Überleg mal, wie lange die Menschen vor zweihundert Jahren zwischen Moorum und Sieventhal unterwegs waren? Und wie lange brauchen wir heute von Sieventhal nach New York? Unser Leben ist immer schneller geworden. Und in den letzten zwanzig Jahren hat die Digitalisierung noch einmal jede bekannte Geschwindigkeit in den Schatten gestellt. Jetzt erhalten wir Nachrichten aus dem letzten Winkel dieser Erde in Bruchteilen von Sekunden. Und wenn wir wollen, sind wir auch noch im allerletzten Winkel erreichbar. Müßiggang ist altmodisch und verstaubt. Der Langsame hat verloren. „Global Player“ sind gefragt! Die Welt als Spielball. Kein Wunder, dass wir uns für unsere Nächsten nicht mehr interessieren. Wer will schon in seiner Region vergammeln, wenn die Welt vor seinen Füßen liegt? Die Erde ist klein geworden – eng. Und Enge führt zum Kollaps, wie bei den Ratten.

BETTINA. Du hast jedes Maß verloren, Alex. Und Deine schöne Theorie, dass die ganze Welt ihr Maß verloren hat, gibt Dir noch lange nicht das Recht für einen Mord. Einem Menschen Gewalt anzutun, ist und bleibt Unrecht.

KIM. Fang jetzt bloß nicht mit Moral an, Betty-Mausi.

BETTINA. Halt den Mund, Kim! (zu Alexander:) Du hast Dich mit den Menschen, die Du eigentlich verachtest, auf eine Stufe gestellt, Alex. Auf die absolut niedrigste Stufe! Damit hast Du das Recht verspiel, Unrecht anzuklagen. Ich erkenne Dich nicht mehr, Alexander Jessen!

 

Kims Mobiltelefon klingelt.

 

KIM schaut auf das Display des Handys. Das ist mein Bruderherz. Vielleicht ist was passiert.

BETTINA deutet auf Alexander. Kein Wort über ihn!

KIM nimmt das Gespräch an. Hey, Moritz, was gibt’s? … Wann? … Voll krass! … Wie? Ihre Schwester will mit uns reden? … Heute noch? …Alles klar. Ich hol Dich ab, ciao!

 

Sie trennt die Verbindung und blickt Alexander wütend an.

 

KIM. Was bist Du eigentlich für ein Clown? Bist Du pervers? Bist Du auf Droge?

BETTINA ist erschrocken. Was hat er gemacht, Kim? Sag es mir. Bitte! Hat er noch mehr Menschen umgebracht? Hat er ein Blutbad angerichtet. Kim! Wie viele hat er umgebracht?

KIM. Er hat überhaupt keinen umgebracht! Er hat uns verarscht. Er hat die ganze Zeit mit uns gespielt.

BETTINA. Er hat niemanden umgebracht?

KIM. Die Freundin des Opfers hat sich gestellt. Der Typ wurde mit seiner eigenen Waffe erschossen. Es war sozusagen ein Unfall.

BETTINA. Ein Unfall?

KIM. Der Möchtegern-Rambo hat vor seinen Freunden mit dem neuen Spielzeug geprahlt. Die Knarre hat die Runde gemacht, und landete schließlich bei seiner Freundin. Blöderweise hat sich in dem Moment ein Schuss gelöst. Jetzt will ihre Schwester bei NOC alles erzählen.

BETTINA zu Alexander. Ist das wahr? Du hast ihn nicht erschossen? Du hast uns belogen? Warum?

ALEXANDER. Ich habe daneben gestanden, Betty. Ich habe seinen Schädel platzen gesehen. Die Wucht hat ihn vom Hocker geschleudert.

BETTINA. Du warst dabei?

ALEXANDER. Ich war bei Walid im Krankenhaus, wie ich´s Dir erzählt habe. Dann bin ich durch die Straßen gelatscht. Eigentlich ziellos. Ich weiß nicht, wie ich zum URWURST kam, aber ich bin rein gegangen. Ich wollte diese Jugendlichen zur Rede stellen. Ich wollte wissen, warum sie Springerstiefel tragen und sich Glatzen rasieren. Warum sie gegen Ausländer hetzen und Schwule verprügeln. Ich wollte wisse, warum sich diese armseligen Verlierer für was Besseres halten und anderen Menschen mit Verachtung begegnen.

KIM. Und warum hast Du das nicht gleich gesagt? Dann hätte ich mir den ganzen Scheiß hier sparen können!

ALEXANDER. Ich bin nicht mit dem Vorsatz hierhergekommen, euch zu belügen. Aber als mich Betty für den Täter hielt, hat es mich gereizt, einen Augenblick der Täter zu sein. Zumindest eine Zeit lang mit dem Gedanken zu spielen, der Täter zu sein.

KIM. Du bist ja tatsächlich pervers.

BETTINA. Ich kann das verstehen.

KIM. So plötzlich?

BETTINA. Du hast den Mörder verstanden. Ich verstehe den Spieler. Ein Unterschied, finde ich.

KIM genervt. Ja, leck mich doch! In Moorum wartet die Realität auf mich. Spielt ohne mich weiter! Ich muss Moritz abholen. Ciao!

 

Kim geht ab.

 

ALEXANDER blickt ihr nach. Was stimmt eigentlich nicht zwischen euch?

BETTINA. Diese Frage (kurze Zäsur) beantworte ich Dir ein anderes Mal. OK?

 

Black out.

 

Auf dem Groß-Monitor über der Bühne ist der Vorspann einer neuen Fernsehsendung zu sehen: „Nerius On Crime TV“. Dann sieht man KIM NERIUS in einem gestylten Fernsehstudio hinter einem Schreibtisch sitzend. Sie lächelt in die Kamera.

 

KIM. Hallo, guten Abend, ich begrüße Sie zu meiner ersten Sendung „Nerius On Crime TV“. Von heute an werden wir regelmäßig über Verbrechen berichten. Aber statt uns mit den Tätern zu befassen, die angeblich eine schlimme Kindheit hatten und darum nur vermindert schuldfähig sind, werden wir die Opfer zu Wort kommen lassen. Die Menschen, die durch das Unrecht, das man ihnen angetan hat, die durch Demütigung und Gewalt aus der Bahn geworfen worden sind. Menschen, die mühsam den Weg zurück ins Leben finden müssen. Wir sprechen mit den Opfern, die noch leben, wir hören ihnen zu, und geben denen eine Stimme, die tragischer Weise nicht mehr selbst für sich sprechen können. (Zäsur) Die ersten Gäste in meiner Sendung sind zwei junge Männer, zwei Freunde, die glücklicherweise dabei sind, ihren Weg zurück in ein lebenswertes Leben zu gehen. Sie werden uns ihre Geschichte erzählen und anderen durch ihre Kraft hoffentlich ein wenig Mut machen, ebenfalls nicht aufzugeben.

 

Im Bild erscheinen nun neben Kim Nerius WALID JESSEN und sein Freund DJAMAL.

 

KIM. Ich begrüße bei mir im Studio Djamal und seinen besten Freund Walid. Hallo! Danke, dass ihr da seid!

WALID schüchtern. Hallo!

DJAMAL grinsend. Hey, Jamila!

KIM. Ihr habt krasse Dinge erlebt. Wie geht es euch heute?

WALID. Ich bin ok.

DJAMAL. Wir lassen uns nicht unterkriegen.

KIM. Das ist gut zu hören! Wir werden noch ausführlich darüber sprechen, was ihr in eurer Heimatstadt Moorum erleben und erleiden musstet, und wie ihr die Kraft dazu gefunden habt, mit dem Hass und der Gewalt, die euch begegnet sind, umzugehen. Ich denke, eure Freundschaft ist ein wichtiger Schlüssel dafür!

 

Walid und Djamal nicken.

 

KIM ist wieder allein im Bild. Liebe Zuschauer, bevor wir die Hintergründe von Fremdenfeindlichkeit und Homophobie in einer deutschen Kleinstadt näher beleuchten, holen wir noch etwas Luft und schalten kurz zur Werbung. Sie sind bei „Nerius On Crime TV“. Ich bin in zwei Minuten zurück. Bleiben Sie wach!

 

DUNKEL.

ENDE

 


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