#lichterkettemoorum

Erster Akt


Auf einem Groß-Monitor über der Bühne wird eine neue Folge des Video-Blogs „Nerius On Crime“ ausgestrahlt.

 

Live-VLog NOC

 

KIM NERIUS steht vor einem Asylbewerberheim in der Kleinstadt Moorum, auf das ein Brandanschlag verübt worden ist. Polizeisperren und Blaulicht sind zu sehen, Spurensicherung, ausgebrannte Wohncontainer, Rettungskräfte und ein paar Schaulustige.

 

KIM. Moin ihr Netzhocker! Hier ist „NOC – Nerius On Crime“. Ich bin heute Morgen früh raus, um für euch nach Moorum zu düsen. Hier ist nämlich in der letzten Nacht ein echt fieses Ding gelaufen. Mit Brandbomben ist eine Flüchtlingsunterkunft abgefackelt worden. Leute, ich könnte kotzen! In dem Flüchtlingsheim wohnen Familien mit Kindern. Kleinkindern! Wie krank muss man sein, um so ein Ding abzuzieh´n? Diese rechtsradikale Scheiße geht mir sowas gegen den Strich, das kann ich euch gar sagen! Ich weiß noch nicht, ob es Verletzte gibt oder sogar Tote. Wartet mal, da ist ein Wachmann oder so, den werde ich mal fragen.

 

Kim läuft an einigen Schaulustigen und Rettungskräften vorbei zu dem Wachmann eines privaten Sicherheitsdienstes.

 

KIM. Hallo, ich bin Kim Nerius, NOC – wissen Sie mehr darüber, was hier passiert ist? Gibt es Verletzte?

WACHMANN knapp. Eine Person wird vermisst, ein Kind. Mehr kann ich nicht sagen.

 

Der Wachmann geht.

 

KIM. Ihr habt´s gehört: ein Kind wird vermisst. Es kann tot sein, verbrannt! Ein totes Kind wegen hirntoter Rassisten! Ich will mal ein paar Stimmen einfangen.

 

Kim Nerius spricht zuerst eine JUNGE MUTTER mit ihrem Kind im Vorschulalter an.

 

KIM. Hallo, ist das ihr Kind?

JUNGE MUTTER misstrauisch. Ja, natürlich, das ist Sandra.

KIM. Hallo Sandra. (fragt die junge Mutter:) Haben Sie mitbekommen, was hier passiert ist?

JUNGE MUTTER. Nein, wir sind auf dem Weg in den Kindergarten. Eigentlich sollte meine Tochter so was nicht sehen. Komm, Sandra!

 

Die junge Mutter fasst ihr Kind bei der Hand und geht. Kim spricht DJAMAL, einen neunzehnjährigen Schüler an. Er hat eine athletische Bodybuilder-Figur.

 

KIM. Hallo, hast Du kurz Zeit?

DJAMAL cool. Was kann ich für Dich tun, Jamila?

KIM. Ich bin Kim Nerius…

DJAMAL unterbricht sie. Ich kenne Dich! Jamila heißt „die Schöne“! Ich hab Dich immer bei mir (er zeigt ihr sein Smartphone).

KIM. Dann weißt Du ja, dass Du jetzt On-Line bist!

DJAMAL zeigt ihr den OK-Daumen. Du hast voll recht, Jamila, das ist „rechtsradikale Scheiße“ hier, aber das ist nicht neu in Moorum.

KIM. Wie meinst Du das?

 

HEIDI GREVEN, eine mollige Frau Anfang sechzig mischt sich ein. Sie wirkt empört und angespannt.

 

GREVEN. Sind Sie vom Fernsehen?

KIM. Ich bin Kim Nerius, NOC…

DJAMAL zeigt Heidi Greven sein Smartphone. Sie sind im Live-Stream, Frau Greven.

GREVEN. Ach herrjeh, ich bin Heidi Greven, ich bin Lehrerin am Sophie-Scholl-Gymnasium. Was Sie hier sehn, das ist nicht Moorum. Wir haben nichts gegen Ausländer. Das sind einzelne Chaoten. Das ist nicht Moorum. Die Menschen tun hier wahnsinnig viel für Flüchtlinge.

DJAMAL. Wir haben aber auch ne Menge Nazis hier.

GREVEN. Das ist doch nicht wahr, Djamal! Wie können Sie sowas sagen?

DJAMAL. Ich denke an die Hakenkreuze.

KIM. Hakenkreuze?

GREVEN. Geschmacklose Schmierereien an unserer neuen Turnhalle.

DJAMAL. Es gibt extra Sportnachmittage für Flüchtlinge in der neuen Turnhalle.

KIM. Krass. Das passt wohl einigen nicht in ihr arisches Weltbild.

GREVEN. Bitte konstruieren Sie nicht solche Dinge. Schmierereien finden sie an jeder Hauswand. Neue oder frisch gestrichene Wände sind dafür besonders beliebt.

DJAMAL. Auf die neue Turnhalle hat es auch schon einen Brandanschlag gegeben.

GREVEN. Djamal, hören Sie auf!

KIM. Was ist das mit dem Brandanschlag?

DJAMAL. Im Geräteraum der Turnhalle.

GREVEN. Das war ein Dummer-Jungen-Streich. Es gab auch keine nennenswerten Schäden.

KIM. Und die „dummen Jungen“ sind bekannt?

GREVEN. Glauben Sie, die melden sich freiwillig?

DJAMAL. Man hat Leute vom URWURST an der Turnhalle gesehen. Würde mich nicht wundern, wenn die auch für diese Sauerei (er weist auf das Flüchtlingsheim) verantwortlich sind.

GREVEN. Seien Sie still, Djamal! Sie können nicht einfach irgendwelche Leute verdächtigen.

KIM. Was ist die Urwurst?

DJAMAL. Das URWUST ist ´ne „braune“ Kneipe.

GREVEN. Im URWURST treffen sich viele Jugendliche.

DJAMAL. Glatzen in Springerstiefeln.

GREVEN. Djamal! Halten Sie endlich den Mund! Sie reden sich um Kopf und Kragen!

KIM. Sind Sie die Lehrerin von Djamal, Frau Greven?

GREVEN. Ich unterrichte Werte und Normen in Djamals Klasse.

KIM. Krass! Welche Werte haben denn Leute, die hilflose Menschen abfackeln?

DJAMAL. Coole Frage.

GREVEN. Das ist eine gemeine Frage. Die Willkommenskultur, die Deutschland in den letzten Monaten ausgezeichnet hat, die finde ich großartig, geradezu vorbildlich. Das dürfen wir uns nicht durch irgendwelche Chaoten kaputt machen lassen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Hilfsbereitschaft und Toleranz auch weiterhin die Oberhand behalten. Vielleicht wird es Zeit, dass wir ein Zeichen setzen. Ja, ich denke, dass sollten wir tun. Eine Lichterkette zum Beispiel. 

DJAMAL. Lichterketten sind Bullshit, Frau Greven.

GREVEN. Nein, eine Lichterkette gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit ist genau das Richtige. Ich bin überzeugt, dass wir das in Moorum hinbekommen, und damit ein deutlich sichtbares Zeichen setzen können.

KIM. Das hört sich entschlossen an.

GREVEN. Ich bin entschlossen. Wir laden Sie ein, dann können Sie mal etwas Positives senden, statt immer nur über Verbrechen zu berichten. Ich muss jetzt in die Schule. Sie hören von mir.

 

Heidi Greven eilt davon.

 

DJAMAL. Ich muss auch los. (grinst) Wir haben gleich Werte und Normen! Aber (er tippt auf sein Smartphone und grinst) ich seh´ Dich, Jamila!

 

DJAMAL folgt seiner Lehrerin.

 

KIM süffisant. ´ne Lichterkette! Ich bin gespannt. Sobald ich Neues habe, melde ich mich wieder. Ihr seid bei „Nerius On Crime“. Bleibt wachsam. Ciao!

 

Ende Live-VLog NOC. Das Bühnenbild wird sichtbar.

 

Die Atelierwohnung von Bettina Wagenknecht und Kim Nerius in Sieventhal. Es ist die Nacht nach dem Live-VLog von NOC aus Moorum über den Brandanschlag auf das Asylbewerberheim.

Der große Raum ist eine Mischung aus Fotostudio und Wohnzimmer. Keine Zimmerbeleuchtung. BETTINA WAGENKNECHT sitzt vor einer weißen Wand, die ihr als Projektionsfläche dient. Neben ihr stehen eine Flasche Rotwein und ein riesiger Aschenbecher, in dem sich Zigarettenkippen türmen. In der einen Hand hält Bettina Zigarette und Rotweinglas, in der anderen die Fernbedienung für einen Beamer, der mit ihrem Laptop verbunden ist. Sie ist barfuß und trägt bloß ein großes, oberschenkellanges T-Shirt.

Zu dem Song „What A Feeling“ aus dem Film „Flashdance“ schaut sich Bettina eine Serie von kitschig anmutenden Fotografien an, die sie selbst vor über 30 Jahren in Moorum gemacht hat: Fachwerkhäuser, Kopfsteinpflasterstraßen, spielende Kinder, Felder und Wiesen, Tiere und Sonnenuntergänge in penetranter Postkartenromantik. Zwischen den Fotos, die übergroß an die weiße Wand projiziert werden, schaltet Bettina scheinbar beliebig mit der Fernbedienung hin und her. Mal verweilt sie etwas länger auf einem der Bilder, dann switscht sie wieder in rascher Folge vor und zurück. 

Schließlich sind Fotos von Demonstranten an dem Bauplatz des Kernkraftwerks Moorum zu sehen. Einer der Demonstranten lacht in Großaufnahme in die Kamera. Es ist Alexander Jessen im Alter von ca. 20 Jahren. Bettina verharrt auf dem Foto. Sie legt die Fernbedienung beiseite und tritt an die Wand heran, um sich den Blick ihres Freundes genauer anzusehen. Sie nimmt einen intensiven Zug aus der Zigarette, und leert ihr Glas mit einem Schluck. Bettina geht an ihren Platz zurück, drückt die Kippe aus, schenkt sich Rotwein nach und will sich eine neue Zigarette nehmen, doch die Schachtel ist leer. Bettina zerknüllt die Schachtel und wirft sie zu Boden. Sie kramt in einer Tasche herum, findet aber nichts. Sie schaltet die Deckenbeleuchtung ein, die grell den ganzen Raum erhellt. Sie geht zu einem riesigen Tisch, auf dem sich neben diversen Kameras und Objektiven auch eine Dose befindet. Bettina öffnet die Dose und schüttet ihren Inhalt auf den Tisch: Geldscheine und eine Hand voll Silbergeld. Bettina sucht sich ein paar Münzen zusammen und geht zu einem Zigarettenautomaten, der neben der Zimmertür steht. Aus dem Automaten drückt sie sich eine Schachtel, die sie hastig öffnet.

 

KIM NERIUS tritt ein, sie wirkt aufgekratzt. Offenbar ist sie gerade erst nach Hause gekommen. Sie schaltet die Musik aus.

 

KIM natürlich. Du bist noch wach?

BETTINA biestig. Spar dir deinen Vorwurf. Ich muss morgen nicht raus, der Termin ist abgesagt. Außerdem weiß ich selbst, dass ich zu viel trinke und wie eine Geisteskranke rauche. Mir ist auch klar, dass ich leichtsinnig bin und Du die Schnauze voll hast, weil ich launisch bin, unberechenbar und selbstsüchtig. Ich finde mich selbst zum Kotzen. Aber ich werde den Teufel tun und mich ändern!

KIM kommt zu ihr und gibt ihr einen Kuss. Ich liebe dich auch!

 

Kim schaltet das grelle Licht wieder aus, nimmt sich die Fernbedienung für den Diaprojektor und setzt sich auf Bettinas Platz.

 

KIM. Wer ist das?

BETTINA. Alexander. Der einzige Mann, den ich mal geliebt habe.

KIM. Wie süß! Lebt er noch?

BETTINA. Er arbeitet jetzt in dem Atomkraftwerk, gegen das wir damals zusammen protestiert haben.

KIM. Kernkraftwerk Moorum.

BETTINA bissig. Wie klug Du bist, mein Liebling!

KIM ignoriert ihre Bissigkeit. Ich war heute in Moorum.

BETTINA ist erstaunt. In Moorum? In so einem langweiligen Kaff? Bist Du von Ver-brechen auf Dorfgeschichten umgestiegen?

KIM. In dem „langweiligen Kaff“ haben Neo-Nazis das Flüchtlingsheim abgefackelt. Ein Kleinkind wurde dabei gegrillt.

BETTINA ist angewidert. Ekelhaft!

KIM ist provokant zynisch. ´ne geile Story immerhin. Moritz hat für NOC in den letzten Stunden dreihundert neue Follower gezählt.

BETTINA ebenso zynisch. Na, herzlichen Glückwunsch!

KIM sonnig. Danke!

 

Kim „klaut“ Bettina das Rotweinglas und nimmt einen kräftigen Schluck.

 

KIM. Warum bist Du heute eigentlich so zickig? Das ging schon heute Morgen los.

BETTINA. Altersdepression, mein Liebling. Stinknormale Altersdepression. In zwanzig Jahren wirst Du wissen, was das ist.

KIM heiter-ironisch. Gott sei Dank! Ich dachte schon, was Ernstes! (sie deutet auf das Bild von Alexander) Erzähl mir von dem da! Er hat ein nettes Lächeln.

BETTINA. Ja, auch heute noch. Ich habe Alexander neulich bei unserem Klassentreffen wiedergesehen. Leider lächelt er nicht mehr so oft wie früher, seine Frau ist vor drei Jahren gestorben. Eine tolle Frau – Hayet!

KIM ist neugierig. Hayet?

BETTINA. Sie stammt aus Tunesien. Wunderschön. Zierlich. Und trotzdem enorm stark und charismatisch.

KIM. Klingt, als wärst Du auch in sie verliebt gewesen?

BETTINA verschmitzt. Nicht so hoffnungslos, wie in Jennifer Beals, mein Liebling! (sie holt sich das Weinglas von Kim zurück.) Hayet war Chirurgin. Sie war unermüdlich im Einsatz für „Ärzte ohne Grenzen“. Ich habe sie nur ein paar Mal getroffen. Und seit zehn Jahren gar nicht mehr. Weder sie noch Alexander.

KIM. Woran ist sie gestorben?

BETTINA. Krebs. Irgendein Krebs.

KIM. Krass. Du bist Arzt und kannst Dir selbst nicht helfen. (Zäsur) Haben sie Kinder?

BETTINA. Einen Sohn – Walid. Er studiert hier an der Uni in Sieventhal.

KIM leicht ironisch. Lass mich raten: er studiert Medizin – wie seine tolle Mama.

BETTINA. Keine Ahnung, ich glaube nicht. Literatur oder sowas. Vielleicht auch Sprachen.

 

Kim switscht mit der Fernbedienung zurück zu den Postkartenaufnahmen von Moorum.

 

KIM ist erheitert. Hey, was ist das denn? Ist das Moorum? Krass! Die Fotos hab ich ja noch nie geseh´n! Hat Dein Opa die gemacht?

BETTINA versucht ihr die Fernbedienung abzunehmen. Schalt das weg. Das ist Schwachsinn!

KIM lässt sich die Fernbedienung nicht abnehmen und schaltet weiter. Mann oh Mann, Betty-Mausi! Sind die etwa neu? Ist das schon der Anfang Deiner Altersdepri? Ich schmeiß´ mich weg!

BETTINA. Kim, bitte, Liebling! Hör auf damit!

 

Bettina schafft es nicht, Kim die Fernbedienung abzunehmen.

 

KIM. Vorsicht! Du verschüttest ja den Wein.

BETTINA. Ich hab noch nie Wein verschüttet. Alles andere, nur keinen Wein. (sie gibt auf.) Egal, schau sie Dir an. Ich hab das damals für eine geniale Idee gehalten.

KIM. Echt genial! So ein Kitsch! Voll krass!

BETTINA. Ich wollte überdeutlich den Gegensatz zeigen: hier die bedrohte Kleinstadt-Idylle, dort das teuflische Atomkraftwerk.

KIM. Du kannst Deine Sammlung ja noch erweitern: mit Fotos von ausgebrannten Flüchtlingsbarracken und einer verkohlten Kinderleiche. Dann ist der Horror perfekt!

BETTINA bitter. Warst Du schon immer so zynisch, Kim?

KIM. Verbrechen sind zynisch, Betty-Mausi, nicht Worte.

BETTINA. Du bist zu viel mit Verbrechen beschäftigt, Kim.

KIM. Geht das schon wieder los?

BETTINA. Dein ganzes Leben besteht doch nur noch aus Verbrechen. 24 Stunden am Tag lauerst Du auf Totschläger und Mörder!

KIM. Und? Meinst Du, das ist schädlich? Für meine zarte Seele oder so?

BETTINA. Gut ist es sicher nicht.

KIM. Es ernährt mich – und meinen Bruder.

BETTINA ist wütend. Fuck off, Kim Nerius! Das ist doch gequirlte Scheiße! Ich sehe doch, wie Dich das alles auffrisst. Du bist eine erstklassige Journalistin, Liebling, wirklich. Man glaubt Dir, was Du sagst. Du hast das richtige Feeling. Dein Timing stimmt. Dein Gespür für Situationen ist enorm. Verschleudere Dein Talent bitte nicht ans Internet!

KIM. Das ist die Zukunft, Betty-Mausi, und die hat längst begonnen.

BETTINA. Du könntest Reportagen für bedeutende Sender machen. Ein Anruf von mir und Dir …

KIM unterbricht sie schroff. Ich brauche Deinen Protektionismus nicht! Ich dachte, dass wir dieses Thema längst erledigt hätten.

 

Kurzes Schweigen. Bettina leer ihr Glas und schenkt sich frustriert den Rest aus der Weinflasche ein.

 

KIM beiläufig. Es könnte übrigens sein, dass ich demnächst tatsächlich Fernsehen mache.

BETTINA ungläubig. Fuck off! Was führst Du jetzt wieder im Schilde, Kim Nerius?

KIM. Ich warte nur noch auf eine Zusage aus Köln.

BETTINA hoffnungsvoll. WDR?

KIM belustigt. Öffentlich-rechtlich? Das traust Du mir nicht wirklich zu!

BETTINA. Schade. Aber mit RTL kann ich mittlerweile auch leben.

KIM lacht bitter. Betty-Mausi! Kann es sein, dass Du von Deiner Fick-Bekanntschaft nicht den Schimmer einer Ahnung hast?

BETTINA ist erschrocken und wütend. Du hast Dich eben nicht ernstlich als meine „Fick-Bekanntschaft“ bezeichnet!

KIM. Wenn Dich in den letzten Jahren ganz offensichtlich außer meinem Körper nichts weiter interessiert hat, dann muss ich das so seh´n!

BETTINA wirft ihr Weinglas zu Boden. Das ist nicht Dein Ernst, Kim Nerius!

KIM hat sich erschrocken, antwortet aber cool. Verlierst Du jetzt wieder die Nerven? Deine Krisen häufen sich in letzter Zeit.

BETTINA. Willst Du deswegen weg?

KIM. Wer sagt denn, dass ich weg will?

BETTINA. Du provozierst Streit, das tust Du immer, wenn Du mir was sagen musst, das Dir nicht leicht fällt.

 

Schweigen. Lauern.

 

BETTINA schwach, ehrlich. Ich will Dich nicht verlieren, Kim!

KIM. Du verlierst mich ja nicht. Warum sollst Du mich verlieren?

BETTINA. Weil ich sowieso ständig Angst habe, Dich zu verlieren. Du bist über zwanzig Jahre jünger als ich. Was willst Du überhaupt mit mir?

KIM giftig. Ich weiß nicht – Mutter-Komplex?

 

Bettina antwortet nicht. Statt dessen geht sie hinaus in den Flur. Kim nimmt erschöpft auf dem Sofa Platz und checkt ihr Mobiltelefon. Bettina kommt mit einem Handfeger, Kehrblech und Eimer zurück. Sie beginnt damit, die Glasscherben aufzufegen.

 

KIM beginnt vorsichtig. Kennst Du „crimeTV“?

BETTINA hält inne, erwartet das Schlimmste. Ich hab davon gehört.

KIM. Was hältst Du davon?

BETTINA steckt Handfeger und Kehrblech zu den Scherben in den Eimer. Totschlag, Vergewaltigung, Mord? Vierundzwanzig Stunden am Tag? Was glaubst Du, was ich davon halte?

KIM. Mir gefällt was die machen. Mir gefällt, wie sie es machen.

BETTINA. „crimeTV“ hat mehr Zuschauer als Dein Video-Blog, nehme ich an. Oder soll ich sagen „Follower“?

KIM. Es geht nicht um mehr Zuschauer. Es geht um breite Aufklärung. Um Realität, die uns umgibt, und die so gerne ausgeblendet wird. Um Wahrheit!

BETTINA. Wahrheit? Ich kotze gleich!

KIM. „crimeTV“ setzt sich für Opfer ein, die werden nämlich überall vergessen. Alle reden nur von Tätern, davon, dass sie eine schlimme Kindheit hatten, selber Opfer sind und darum nur vermindert schuldfähig. Die werden dann auf Staatskosten therapiert und mit einer guten Prognose vorzeitig entlassen, um sich anschließend bequem das nächste Opfer suchen zu können. Das, Betty-Mausi, finde ich zum kotzen!

BETTINA. Verausgabe Dich nicht, Liebling! „crimeTV“ ist alles, nur kein Opferschutz-Programm. Das ist schlimmste Heuchelei! Bei „crimeTV“ geht es nicht um Aufklärung, und schon gar nicht um Wahrheit. Es geht einzig und allein darum, zahlenden Zuschauern das zu liefern, wonach sie offenbar am meisten gieren: Verbrechen und Gewalt. In allen Schattierungen. Das Leid der Anderen verkauft sich gut, und darum, nur darum wird es gezeigt. Würde ein Kindergeburtstag mit Topfschlagen hohe Quoten garantieren, dann würde man auch das zeigen. Und Du würdest sogar zwischen Brei verschmierten Babyfratzen eine glänzende Figur als Liveberichterstatterin abgeben! Kim, Du hast das Zeug zu gutem, ehrlichem Journalismus. Du brauchst nicht Blut und Elend um Deinen Weg zu machen.

KIM. Wer von uns ist hier die Heuchlerin? „Du brauchst nicht Blut und Elend um Deinen Weg zu machen"! Womit hast Du Deinen Weg gemacht? Nicht mit diesen Grußpostkarten da. Dein Name steht für sozialkritische Fotoreportagen. Schon vergessen? Du hast minderjährige Stricher, halbtote Fixer und verprügelte Ehefrauen abgelichtet. Und diese Fotos haben Dich bekannt gemacht. Ich kann mich noch an den Morgen erinnern, als Dir der Titel „Im Vorhof zur Hölle“ eingefallen ist. Krass! Ich war geflasht! Du hattest nicht nur geile Fotos geschossen, Du hattest auch gleich noch die perfekte Marketingstrategie im Kopf. Diese Fotoserie war Deine Geburt als gefeierte Foto-Journalistin. Diesen Fotos verdankst Du alles, was Du bist. Hast Du Dich jemals bei den Elenden auf Deinen Bildern für Deine Karriere bedankt?

BETTINA. Ich wünschte, ich hätte diese Fotos nie gemacht.

KIM. Du spinnst!

BETTINA. Ich weiß, dass Du das nicht verstehst. Aber ich schäme mich für diese Bilder. Ich schäme mich dafür, dass ich das Verlangen hatte, sie zu machen. Und ich schäme mich dafür, dass ich aus ihnen Kapital geschlagen habe.

KIM. Ich höre immer nur: „Ich schäme mich“. Wofür, bitte schön, schämst Du Dich?

BETTINA. Ich weiß nicht, wie ich Dir das klar machen soll. Früher habe ich über solche Sachen nicht nachgedacht. Ich habe etwas gesehen, das mich berührte, und habe es fotografiert. Ich fand das ganz natürlich. Bis ich irgendwann feststellte, dass mich in erster Linie Menschen interessieren, die im Schatten leben. Gesichter, die von Krankheit, Gewalt oder irgend einem anderen miesen Schicksal gezeichnet sind. Ich habe mich dafür feiern lassen, dass ich Aids kranke Kinder angeblich „wieder ins Licht der Öffentlichkeit“ gestellt hätte. Eine Öffentlichkeit, die „für dieses Problem langsam abzustumpfen drohte“. Ich war stolz auf meine Fotos mit den Opfern von Verkehrsunfällen. Ich habe mir eingeredet, eine Mission zu erfüllen. Etwas zu bewirken. Bewusstsein zu fördern, Aufklärung zu betreiben und all diesen ganzen verlogenen Quatsch!

KIM. Wieso verlogener Quatsch? Deine Bilder mit den Aidskindern haben eine irre Spendenwelle ausgelöst. Und Deine Fotos von Verkehrsunfällen haben die gleiche Wirkung gezeigt.

BETTINA. Das ist doch Augenwischerei. Ich habe dem Wohlstandsbürger zu einem bequemen Alibi verholfen. Das ist alles. Man gab sich betroffen, man hat gespendet, man hat sich gut gefühlt. Und ich war stolz auf meine Arbeit. Scheiß Stolz!

KIM. Du wirst tatsächlich alt.

BETTINA. Mehr fällt Dir dazu nicht ein?

KIM. Wenn ich Dich richtig verstehe, hältst Du es für falsch, Themen wie Krankheit, Unfall oder Gewalt öffentlich zu machen, weil die Veröffentlichung immer auch eine kommerzielle Seite hat? Weil mit ihr möglicherweise Erfolg verbunden ist? Glück, vielleicht sogar Ruhm?

BETTINA. Nein! Ja, auch! Viel wichtiger ist aber die Frage der Motivation. Wir reden uns ein, dass wir mit unserer Arbeit zu einer Veränderung beitragen, dass wir sie nur machen, weil wir die Öffentlichkeit informieren wollen. Um Missstände aufzuzeigen und Abhilfe zu schaffen.

KIM. Ja, das tun wir doch auch.

BETTINA. Auch, Kim, das tun wir auch. Wir tun es in erster Linie aber, weil uns unsere Arbeit fasziniert. Ich fotografiere lieber den Stiefel, der eine Blume zertritt, als die Blume in ihrer vollen Blütenpracht. Harmonie langweilt die Menschen. In Zeiten der Eintracht können wir uns nicht beweisen. Wir können uns nicht abheben aus der Masse. Wir brauchen unsere Kriege, geschundene Körper und verkrüppelte Seelen. Der Mensch ist ein abartiges Monstrum.

KIM. Der Mensch will Gegensätze. Sieger und Verlierer. Es ist Schwachsinn, zu fragen, warum das so ist. Es ist ganz einfach so, basta! Wir können das nicht ändern. Ich kümmere mich nicht um den Sinn, ich genieße, dass ich da bin. Das ist doch sowieso alles ein irrer Zufall. Mein Samenspender wär als Kind fast ertrunken. Hätte ihn sein Bruder nicht aus dem Wasser gezogen, wäre ich jetzt nicht da. Klar, wir brauchen unsere Kriege. Eine Welt in Harmonie würde uns anöden. Stillstand wäre die Folge. Anstatt Spannung, große Langeweile. Kriege müsste man erfinden.

BETTINA. Und das stört Dich nicht?

KIM. Warum? Ich lebe, das ist geil. Ich lebe nicht ewig, und selbst das ist geil. Ich würde nämlich gar nicht wissen, womit ich mich eine ganze Ewigkeit beschäftigen sollte. Der Mensch ist nicht die Krönung der Schöpfung! Ja, und? Warum regt Dich das so auf? Wir haben Fehler, wir haben Schwächen, und einige haben mehr davon als andere. Vieles macht keinen Sinn. Vielleicht macht alles keinen Sinn. Ich weiß es nicht. Ist das so wichtig? Es stört mich nicht, dass ich es nicht weiß.

BETTINA. Es macht mich krank, dass ich es nicht weiß.

KIM. Du bist naiv.

BETTINA. Ja, verdammt, ich bin naiv! Vielleicht will ich naiv sein. (Zäsur) Nein, ich bin nicht naiv. Ich will Dir was erzählen, von einem Tag, für den ich mich heute noch schäme. Ich war acht Jahre alt.

KIM. Du schämst Dich heute noch für einen Tag in Deiner Kindheit?

BETTINA. Ja, hör zu! Ich war mit meinen Eltern übers Wochenende zu Besuch bei Tante Wibke auf dem Bauernhof. Mein Cousin hatte seine neue Freundin mit nach Hause gebracht, und alle waren begeistert von der Schlampe. Das hat mich eifersüchtig gemacht. Ich habe mir ein Katzenbaby geschnappt und bin in den Wald marschiert. Kaffee und Kuchen waren gestorben, alle haben nach mir gesucht. Ich habe gehört, wie sie meinen Namen riefen, und vom Waldrand aus konnte ich beobachten, wie alle aufgeregt hin und her rannten. Ich fand das toll. Die neue Freundin war vergessen, jetzt stand ich wieder im Mittelpunkt. Dafür wurde ich dann abends vorzeitig ins Bett geschickt. Halb in der Nacht hat mich ein Aufschrei geweckt. Ich war nicht eine Sekunde verschlafen, und ich wusste sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Die Gästezimmer lagen im Obergeschoss. Vom Treppenabsatz aus konnte ich die Haustür sehen. Dort stand mein Onkel, weiß im Gesicht, an seiner Schulter hing Tante Wibke, von Weinkrämpfen geschüttelt. Meine Eltern standen hilflos da-neben. Die anderen Personen kannte ich nicht, sie trugen Uniformen. Die fremde Frau hatte ein schönes, ausdrucksstarkes Gesicht, es lag im Halbschatten und ich konnte meinen Blick nicht davon abwenden. Endlich nahm mich die Polizistin wahr. Ich durfte auf ihrem Arm weinen und dabei den Duft ihrer Haare atmen. Ich habe diese Situation genossen. Obwohl ich verstanden hatte, dass mein Cousin und seine Freundin bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen waren, habe ich diese Situation genossen. Sie war anders. Sie war aufregend. Geil!

KIM. Ja, das kenne ich.

BETTINA. Findest Du das nicht erschreckend?

KIM. Nein. Ich finde das natürlich. Menschlich, wenn Du so willst.

BETTINA. Ich habe diese Spannung bei jedem guten Foto gespürt. Ich habe sie gesucht.

KIM. Logisch. Sonst hättest Du nicht ein gutes Foto gemacht.

BETTINA. Das ist doch abstoßend. Ich komme damit nicht klar.

KIM. Schatz, Du bist verrückt. Der Mensch ist so. Leid regt uns an. Leid entzündet un-sere Fantasie. Wir leiden gerne mit.

BETTINA. Und die Leidtragenden? Die Opfer?

KIM. Die haben Pech gehabt. …Wir sind alle potenzielle Opfer. Das ist der Kick.

BETTINA. Wie locker Dir das von der Zunge geht.

KIM. Ach, Schatz, Du stellst unsere Natur in Frage. Wir brauchen den Konflikt, wir brauchen die Gefahr. Alle Wissenschaft, alle Kunst beruht auf diesem Prinzip. Unser ganzes Leben beruht auf diesem Prinzip. Glaubst Du, wir würden unsere Ärsche bewegen, wenn uns nicht der Tod im Nacken säße? Ich kenne nicht eine gute Story, die ohne Schmerz auskommt. Kino, Theater, Literatur, selbst die Musik lebt vom Wider-streit. Hier ist Schatten, da ist Licht. Das hat Dich doch bis heute nie gestört. Was ist auf einmal mit Dir los? Du bist so ein schrecklicher Problemtyp geworden. Alles nur Altersdepri?

BETTINA versöhnlich. Mag sein. Ist auch egal.

KIM geht zu ihr. Komm mal her! (Nimmt sie in den Arm und küsst sie.) Wieder gut?

BETTINA. Wenn sie Dich nehmen in Köln?

KIM. Ja?

BETTINA. Wirst Du dann nach Köln zieh´n?

KIM. Ich werde dort sicher eine Wohnung brauchen.

BETTINA. Ja, klar!

KIM. Schatz, das heißt doch nicht, dass wir uns trennen!

BETTINA. Nein, alles gut! (sie lächelt) Vielleicht ist Köln gar nicht so eine schlechte Idee. Der Abstand tut uns bestimmt ganz gut.

KIM wird hellhörig. Wie meinst Du das?

BETTINA. Ich denke, wir haben uns in den letzten Monaten voneinander entfernt. Das musst Du doch auch gemerkt haben, Liebling. Köln ist eine Chance. Nicht nur für Dich – für uns. Ich sehe das durchaus positiv.

KIM wittert einen Trick. Du bluffst.

BETTINA. Ich muss mir darüber klar werden, wer von uns beiden sich mehr verändert hat – Du oder ich. Ich frage mich gerade, ob Du schon immer so warst.

KIM. Wie bin ich denn?

BETTINA. Oberflächlich – ist nicht der passende Ausdruck. Und egoistisch sind wir beide auf die eine oder andere Art. Ich will auch nicht behaupten, dass meine Meinung die richtige ist. (Zäsur) Du hast einmal gesagt, wir beide hätten den gleichen Anspruch an unsere Arbeit, das verbinde uns. Das war in einer Zeit, in der Du Dich wahnsinnig darüber aufregen konntest, wie gleichgültig die Leute geworden sind, wie ichbezogen, wie abgestumpft gegenüber anderen. Du hattest Dir vorgenommen, die Leute an ihre Verantwortung zu erinnern. Das wolltest Du mit Deiner Arbeit er-reichen. Wie ich mit meinen Fotos. Und das hat Dich gepusht. Wir haben uns verrannt. Wir haben niemanden an seine Verantwortung erinnert. Wir haben statt dessen bloß das bedient, was uns beide damals angewidert hat: die Gier nach Sensation. Und schließlich sind wir selbst immer mehr der Faszination von Blut und Elend erlegen. Ich frage mich, warum ich diese „Grußpostkarten“ da so schrecklich finde. Sie sind perfekt gemacht. Das Licht stimmt, die Perspektive – und sie sind schön.

KIM. Sie sind verlogen. Kitsch.

BETTINA. Sie zeigen das Liebenswerte dieser Welt. Das gibt es nämlich auch noch. Aber seltsamerweise interessiert uns das nicht. Es langweilt uns geradezu. Ist es nicht erschreckend, dass ein Foto von einem Kind mit einem Maschinengewehr in der Hand als anspruchsvoll und künstlerisch wertvoll gilt, während ein Bild von einem grasenden Schaf für die meisten Leute pastoraler Firlefanz ist?

KIM. Die Frage stellst Du mir nicht ernsthaft, oder?

 

Es entsteht eine kurze Pause.

 

BETTINA. Wir haben unseren Anspruch verloren, Kim. Mich stört das, Dich nicht. Das ist der Unterschied zwischen uns.

KIM. Ach, Du große Tugendhafte, Du! Ich danke Dir, dass Du mich vor dem Verlust meiner Moral bewahren willst. Vor dem Versinken im Morast der Anspruchslosigkeit! Ich gebe Dir einen guten Rat, Schatz: denk lieber zweimal nach, bevor Du zu viel Wein in Dich hinein schüttest! (Zäsur) Deine Gedanken sind sentimentaler Scheißdreck, Betty. Du versuchst Deine Angst vorm Älterwerden im Alkohol zu er-tränken. Und wenn Du Deinen Pegel erreicht hast, sonderst Du geistigen Dünnschiss ab. Werde erst mal wieder nüchtern, dann können wir uns weiter unterhalten. Gute Nacht!

 

Kim stapft hinaus. Bettina schaut ihr hinterher.

 

BETTINA liebevoll triumphierend. Hab ich Deinen wunden Punkt getroffen, Liebling? Wenn Du mich beschimpfst, dann habe ich Deinen wunden Punkte getroffen! Und morgen wirst du so tun, als wäre nichts gewesen. Ich liebe Dich trotzdem, Du geiles Scheusal!

 

Bettina schaltet die Stereo-Anlage wieder an. Es erklingt der Song „Maniac“ aus dem Film „Flashdance“. Erst wiegt sich Bettina leicht nach der Musik, dann beginnt sie ausgelassen zu tanzen. Das Bühnenlicht erlischt.

 

ENDE ERSTER AKT.