Innehalten

Lassen Sie sich hin und wieder treiben?
Und wenn Sie sich treiben lassen, ist es dann eher ein Angetrieben-werden oder ein Dahin-treiben? Fühlen Sie sich als "Herr" Ihres Treibens oder eher als "Knecht"?
Wenn ich innehalte, um mein eigenes und das Treiben der anderen zu betrachten, dann kommt mir unwillkürlich "Der Zauberlehrling" von Johann Wolfgang von Goethe in den Sinn:


"Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch."


Wir sind in der Regel ziemlich überzeugt von unserer "Geistesstärke" und auch ziemlich stolz auf unsere "Wunder".  Denken wir doch nur an die wunderbaren Möglichkeiten  der Digitalisierung! Hätten wir uns vor nicht einmal zwanzig Jahren vorstellen können, mit welcher Geschwindigkeit man Daten von A nach B senden kann? Hätten wir uns ausmalen können, dass man ganz selbstverständlich mit Hochleistungscomputern in Westentaschenformat nicht nur telefonieren sondern auch Filme anschauen und Sportveranstaltungen live verfolgen kann? Wie wundervoll ist es doch, mit Freunden und Verwandten in Übersee zu "skypen", Geburtstagsgrüße über "WhatsApp" zu übermitteln oder Banküberweisungen von zuhause aus zu erledigen. Noch zauberhafter ist die Vorstellung, eines Tages nicht mehr selbst Auto fahren zu müssen, sondern unserem technischen "Weggefährten" einfach nur noch das Ziel zu nennen, um sich dann anderen Dingen widmen zu können: recherchieren, kommunizieren, arbeiten oder auf Knopfdruck Onlinekäufe tätigen - alles während der Autofahrt, alles ohne Zeitverzögerung, alles mit der optimalen Nutzung unserer Zeitressourcen. Wenn man es recht betrachtet, dann sollten wir unseren digitalen Geistern nicht nur das Autofahren überlassen, sondern auch das Arbeiten - welch wundersamer Zeitgewinn würde für uns alle dabei zu Buche schlagen...


"Stehe! stehe!
denn wir haben
deiner Gaben
vollgemessen! -
Ach, ich merk es! Wehe! wehe!
Hab ich doch das Wort vergessen!
Ach, das Wort, worauf am Ende
er das wird, was er gewesen."


Denken wir genug daran, was unsere "Geister" eigentlich gewesen sind? Wissen wir, wann wir ihrer "Gaben vollgemessen" haben? Oder entgleiten die Geister, die wir riefen, mehr und mehr unserer Kontrolle?
Viren, Würmer, Trojaner, Botnetze. Wir können beobachten, dass die destruktiven Kräfte mindestens genauso schnell und fantasievoll in den digitalen Welten wirken wie die konstruktiven. Wir ziehen daraus allerdings immer wieder den gleichen Schluss: dass wir unsere Sicherheitstechnik aufrüsten und immer einen Schritt schneller sein müssen als unsere Gegner.
Haben wir jemals andere Optionen in Erwägung gezogen? Haben wir ernsthaft verschiedene Möglichkeiten betrachtet und in Ruhe das Für und Wider der unterschiedlichen Handlungsoptionen bewertet? Glauben wir tatsächlich, dass wir das, was wir für das Richtige halten, nämlich eine freie und friedliche Gesellschaft, in der verantwortungsbewusste Menschen selbstbestimmt ihr Leben gestalten können, mit einem technischen Wettrüsten gegen die "dunklen Mächte" erreichen werden?


Wie wäre es zur Abwechslung mal, wenn wir mit dem gleichen Aufwand, mit dem wir in den letzten Jahrzehnten die technische Entwicklung vorangetrieben haben, nun unsere menschliche Entwicklung vorantreiben würden? Die Werte, die wir in unserem Grundgesetz formuliert haben, vermitteln wir unseren Kindern nicht durch eine bessere Ausstattung der Klassenräume mit W-LAN und Computern. Durch Arbeits- und Dienstleistungsroboter erhöhen wir nicht unsere soziale Kompetenz. Terrorakte werden wir auch in Zukunft nicht durch eine immer höhere Investition in Überwachungstechnik oder die Einschränkung von Bürgerrechten verhindern. Ebenso wenig wird uns Abschottung und der Rückfall in Kleinstaaterei eine bessere Ausgangslage für die Bewältigung der künftigen globalen Herausforderungen  verschaffen: Klimaveränderung, Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Hunger und Armut, Versorgungsengpässe, irreparable Umweltschäden und die dadurch ausgelösten Völkerwanderungen.


"Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los."


So mancher wünscht sich heutzutage, nach einem Meister rufen zu können, der die Not beendet. Erhört werden solche Rufe jedoch fast ausnahmslos von den Meistern der Vereinfachung, der Verblendung und schleichenden Vergiftung. Diesen Scharlatanen gilt es, nicht nur argumentativ sondern auch durch wirksames Handeln das Handwerk zu legen. Für sein Wohlbefinden benötigt der Mensch ein paar Dinge, die wir viel zu sehr vernachlässigen: Vertrauen, Wärme, Verständnis und Verständlichkeit. Vertrauen ersetzen wir zunehmend durch Misstrauen. Nach Wärme suchen wir in virtuellen Welten vergebens. Bereits die Jüngsten beklagen sich darüber, nicht verstanden zu werden, und selbst für die Entscheider und Lenker in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sind die komplizierten Zusammenhängen und Wechselwirkungen in unserer Welt kaum noch verständlich. 


Das alles darf für uns aber kein Grund sein, zu resignieren. Allerdings sollten wir nicht länger auf den Meister warten, der die losgelösten Geister bändigt. Samuel Beckett hat dieses Warten mit seinem Godot bereits 1953 auf die Theaterbühne gebracht. Er hat uns Erstarrung und Sinn befreites Geschwafel vorgeführt. Leider ist sein Godot immer noch hoch aktuell.
Im nächsten Jahr finden in Deutschland Bundestagswahlen satt. Viele Wähler werden ihr Wahlrecht nicht nutzen. Andere werden durch ihre Stimme Protest ausdrücken. Wahlforscher werden Wahlverhalten analysieren, Reporter werden Politiker befragen und Politiker werden irgendetwas auf die Fragen antworten: auf diese Weise werden uns Erstarrung und Geschwafel live im Fernsehen vorgeführt.


"Alternativlos" ist das sicher nicht. Aber es folgt einer Gesetzmäßigkeit, die sich über Jahrzehnte eingeschliffen hat. Ohnehin hat sich der Begriff "alternativlos" zu einem Modewort entwickelt, das immer dann bemüht wird, wenn man zu bequem ist, offen neue, kreative Lösungen zuzulassen und zu denken. Das "Aus-Denken" ist schon lange nicht mehr unsere Stärke. Die Erwartung daran, schnell und flexibel Veränderungen zulassen und herbeiführen zu können, ist derart hoch, dass es Aus-Denker schwer haben in unserer Gesellschaft. Dabei ist es ein fataler Trugschluss, der wachsenden Komplexität unserer Systeme, mit einer maximierten Entscheidungsgeschwindigkeit begegnen zu können. Veränderungen in komplexen Systemen müssen nicht schnell, sondern gut durchdacht herbeigeführt werden. Dabei sind mögliche negative Auswirkungen einer Veränderung genauso gewissenhaft zu bewerten wie die manchmal trügerisch glänzenden Chancen, die uns blenden und zu vorschnellen Entscheidungen verleiten.


Innehalten hilft dagegen. Wir sollten es häufiger probieren...