Mehr wissen als uns lieb ist

Nun also Berlin. Auf einem Weihnachtsmarkt werden Menschen verletzt und getötet. Ein Unfall kann mittlerweile ausgeschlossen werden. Die Reaktionen in den Medien lassen nicht auf sich warten. Sie spiegeln Emotionen wider. Wut und Trauer.


So plötzlich uns diese Nachricht auch trifft, sie kommt nicht unerwartet. Insofern erscheint mir die vielfältig zum Ausdruck gebrachte Fassungslosigkeit nicht zwingend. Jeder von uns, der in den letzten Wochen einen der großen Weihnachtsmärkte besucht hat, sollte sich mehr oder weniger bewusst gewesen sein, dass er Zeuge oder Opfer eines Anschlags werden könnte. Dieses Wissen ist uns nicht lieb. Verdrängen lässt es sich trotzdem nicht.
Wenn jetzt Stimmen laut werden, die nach Vergeltung schreien, ein hartes Vorgehen gegen die Täter fordern und eine weitere Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen herbei reden, dann sollten wir uns bewusst machen: ein einzelner Terrorist ist nicht die Ursache von Terror!


Wut und Trauer müssen den Opfern und ihren Angehörigen vorbehalten bleiben. Alle anderen sollten ihre Emotionen auf Anteilnahme beschränken und sich ansonsten, ob es ihnen lieb ist oder nicht, mehr mit den Ursachen von Terror beschäftigen als mit den offensichtlichen Auswirkungen.
Die Ursachen für Entwicklungen zu finden, das kann mühsam sein. Wenn diese Entwicklungen negativ sind und uns Angst machen, dann ist die Ursachenfindung nicht nur mühsam sondern oft auch unliebsam. Besonders dann, wenn uns bewusst wird, dass wir selbst Teil der Ursache sind, und unser eigener Anteil an der Lösung viel größer sein muss, als uns ertragbar erscheint.


Einen Teil der Ursachen finden wir m.E. in der Theorie zu menschlichen Bedürfnissen und Motivationen von Abraham Maslow, der sog. "Maslowschen Bedürfnishierarchie". In Deutschland und Europa besitzen wir ein hoch ausgereiftes Wertesystem. Dieses Wertesystem fußt auf unserem Wohlstand, auf dem sicheren Gefühl, in nächster Zeit nicht noch einmal Schauplatz eines Krieges zu werden, und der Freiheit der Bürger, das zu tun und zu werden, was ihnen beliebt. In Europa und besonders in Deutschland stehen zurzeit noch viele Menschen in der "Maslowschen Bedürfnishierarchie" weit oben. Allerdings sind Bedürfnisse nicht nur objektiv sondern auch subjektiv unterschiedlich. Das führte bereits in der Vergangenheit dazu, dass nicht alle, denen es nach objektiven Maßstäben gut zu gehen schien, unsere Wertvorstellungen von Toleranz, Gleichbereichtigung und Freiheit des Einzelnen mittragen wollten oder konnten. In der Gegenwart nun begegnen wir immer mehr Menschen, denen es auch objektiv nicht gut geht, und die in der Bedürfnishierarchie weit unten stehen. Diese Menschen bewegt in erster Linie die Frage, wie sie sich ein Leben ohne Hunger und ohne Angst sichern können.
Hunger und Angst erhöhen auch die Bereitschaft dazu, sich Feindbilder zu schaffen. Und diese Bereitschaft wiederum nährt die Hoffnung, den Feind eines Tages zu besiegen und sich dadurch Wohlstand und Sicherheit zu erobern.


Hunger und Angst in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind Kräfte, die an unserem Wertesystem nicht bloß nagen sondern gewaltig rütteln. Dazu gehört nicht nur der "Bauch-Hunger" sondern ebenso der Hunger nach Wärme und Anerkennung. Es ist auch nicht die existenzielle Angst allein, es sind Ängste in allen möglichen Schattierungen, denen wir uns stellen müssen, wenn wir unser Ideal von einer liberalen Gesellschaftsordnung erhalten wollen.
Die Globalisierung von Märkten und Medien hat sowohl Bedürfnisse als auch Ängste geweckt. Diejenigen, die diese weitreichenden Veränderungen steuern, sind auch verantwortlich für ihren Verlauf. Wer glaubt, Menschen die Früchte unserer "durchgestylten" Welt nur zeigen, ansonsten aber vorenthalten zu können, der wird das gesäte Bedürfnis als "Sturm auf das Buffet" ernten. Wenn zu diesem Sturm auch noch die Vertreibung durch Krieg hinzu kommt, dann erleben wir die Menschenwanderungen, denen wir uns zurzeit ausgesetzt sehen. Und plötzlich treffen in Deutschland und Europa immer mehr Menschen aufeinander, die nicht nur subjektiv sondern auch objektiv auf anderen Stufen der Bedürfnishierarchie stehen, und darüber hinaus auch noch völlig unterschiedliche kulturelle HIntergründe mitbringen.


Auf der Internetseite der Bundesregierung wird die Bundeskanzlerin mit folgenden Worten zum Berlin-Attentat zitiert: "Eine grausame und letztlich unbegreifliche Tat."
Grausam ist so eine Tat, unbegreiflich ist sie nicht. Auch diese Tat hat ihre Ursache. Und diese Ursache lässt sich ergründen. Wer allerdings das Geschehene als "unbegreiflich" hinstellt, der versäumt es, diese Ursache systematisch zu beleuchten und damit begreifbar zu machen. Vielleicht geschieht das aus dem Antrieb heraus, nicht mehr wissen zu wollen, als einem lieb ist. Vielleicht aber auch mit der Absicht, nicht alles sagen zu wollen, was man eigentlich weiß.


Die "Vogel-Strauß-Taktik" wird uns künftig aber nicht mehr weiterhelfen. Wir müssen uns auch mit dem beschäftigen, was wir lieber nicht wissen wollen. Dabei werden wir um eine gehörige Portion Selbstkritik nicht herum kommen. Weil wir zu denen gehören, die die sog. "Globalisierung" steuern und von ihren Früchten am meisten profitieren, haben wir eine globale Verantwortung. Der Rückzug in nationales Denken und Handeln schafft keinen Frieden. Frieden wird es nur dann geben, wenn wir zu einer für alle Seiten annehmbaren Verteilung der Früchte kommen. Das bedeutet für viele von uns, Einschränkungen zu akzaptieren, Bedürfnisse zu mäßigen, den Mantel und die Frucht auch mit solchen Menschen zu teilen, die uns fremd erscheinen.


Ich weiß nicht, ob wir das schaffen. Der erste Schritt dahin wäre es, mehr wissen zu wollen, als uns lieb ist.