Moral über Gesetz?

Wohl wissend, dass der Vergleich formaljuristisch nicht korrekt ist, bezeichne ich das, was nach der MP-Wahl in Thüringen passiert ist, als „kollektive Rechtsbeugung“.

 

Politische Mitbewerber, Medien, Privatpersonen und selbst Parteifreunde haben den gerade erst gewählten Ministerpräsidenten von Thüringen derart unter öffentlichen Druck gesetzt, dass sich Herr Kemmerich nur 24 Stunden nach seiner Wahl zu einer Rücktrittserklärung genötigt sah. Man hat Herrn Kemmerich keine Gelegenheit dazu gegeben, sich zu erklären, seine Pläne für das Land Thüringen zu erläutern oder seine Vorstellungen davon, wie er eine funktionsfähige Regierung für das Land zustande bringen will. Einige waren sich nicht einmal zu schade dazu, unsägliche Nazi-Vergleiche zu ziehen.

In Thüringen haben nicht vermeintliche Demokraten einen Diktator gewählt. In Thüringen hat ein demokratisch legitimiertes Parlament in einer geheimen Wahl einen liberalen Ministerpräsidenten gewählt, der glaubhaft jede Form von Radikalität und Faschismus ablehnt. Gerade dann, wenn man der Meinung ist, Herr Kemmerich hätte aus moralischen Erwägungen heraus diese sehr speziell zustande gekommene Wahl nicht annehmen dürfen, muss man diesen pseudo-moralischen Sturm der öffentlichen Empörung ablehnen und verurteilen. Stattdessen haben sich viele Kritiker mit der Art ihrer Kritik auf eine Stufe mit jenen gestellt, die Parteizentralen mit Parolen beschmieren oder Parlamentarier bedrohen. Erst diese völlig überzogene kollektive Gewaltausübung hat den Erfolg für die AfD perfekt gemacht.

Dabei gab es Handlungsalternativen, die keinen Schaden angerichtet hätten. Warum hat die CDU nicht einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt, anstatt zu riskieren, dass der Vertreter einer von ihr abgelehnten Partei Ministerpräsident wird? Warum haben sich SPD und Grüne nicht einfach mit Herrn Kemmerich zusammengesetzt, um die Lage zu besprechen? Anschließend hätten sie ohne viel Tamtam erklären können, dass eine Zusammenarbeit nicht möglich erscheint.

 

Diese Liste von Beispielen ließe sich verlängern. Was mir bleibt, ist das Erschrecken darüber, wie leicht aus zivilisierten Menschen eine Meute wütend heulender Wölfe werden kann. Herr Kemmerich muss sich fragen, wie tragfähig seine Chancen-Risiko-Bewertung war, bevor er sich „ins Feuer“ begab. Diejenigen allerdings, die sich mit ihrer Pseudo-Moral auf den „Feuerschlucker“ gestürzt haben, um ihn zu zerreißen, müssen sich schämen. Sie haben mit ihrem Verhalten der Demokratie geschadet, nicht Herr Kemmerich.

 

Wenn selbst Regierungsvertreter persönliche Moralvorstellungen über das Gesetz stellen, dann sollten wir uns alle zusammen Sorgen machen.