Mir ist nicht mehr gegenwärtig, ob und wie uns in meiner Schulzeit die Grundrechte vermittelt worden sind. Würde ich behaupten, gar nicht, dann würde ich meinen Lehrern möglicherweise Unrecht tun. In Erinnerung geblieben sind mir entsprechende Unterrichtseinheiten allerdings nicht. Dabei gehört die Kenntnis unserer Verfassung m.E. zu den elementaren Bildungseinheiten, die uns vermittelt werden müssen. Und wie man an diversen Reaktionen zu der Aktion #allesdichtmachen gerade beobachten kann, benötigen viele in diesem Land bezüglich unserer Grundrechte wirksame Nachhilfe.
Aber mit Nachhilfe allein wird das Problem nicht zu lösen sein. Während wir von unserer Regierung zyklisch über alle möglichen Statistiken informiert werden, fehlt uns eine regelmäßige Betrachtung dazu, wie es um den Reifegrad unserer Grundrechte steht: in welchem Maß werden sie akzeptiert, garantiert und gelebt? Diese Erhebung und eine nachvollziehbare Kommunikation darüber fehlt.
In meinem Blog-Beitrag vom 01.11.2019 "Auch der Staat muss sich messen lassen" hatte ich angeregt, dass zu jedem Grundrecht Nachhaltigkeitsindikatoren festgelegt werden, die in ihrer Gesamtbetrachtung eine fundierte Aussage über den verfassungsgemäßen Zustand und die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft zulassen.
Als Instanz, die sowohl die Entwicklung dieser Indikatoren überwacht als auch konsequentes Handeln zur Wahrung der Grundrechte und der Korrektur negativer Entwicklungen von den Regierenden einfordert, hatte ich den Bundespräsidenten vorgeschlagen. Durch ihn und das Bundespräsidialamt müsste eine jährliche Betrachtung, Bewertung und Kommunikation der Indikatoren vorgenommen werden. Und es sollte rechtlich ermöglicht werden, dass der Bundespräsident der Regierung unabhängig von den jeweiligen Regierungsprogrammen und Koalitionsvereinbarungen Aufträge erteilen kann, um gravierende Mängel bezüglich Akzeptanz, Gewährung und Einhaltung unserer Grundrechte zu beseitigen.
Solange in unserem Land von Amtsträgern Berufsverbote für Menschen gefordert werden, die in legitimer Art und Weise ihre Meinung kundtun, solange in unseren sog. "sozialen Medien" Hasstiraden auf Andersdenkende niedergehen und dumpfe Subjekte Andersdenkende mit Gewalt und Totschlag bedrohen, solange begleitet mich ein verdammt mulmiges Gefühl. Und ich frage mich, wie reif wir als Gesellschaft eigentlich sind.